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Richtete gerade die Olympischen Spiele aus: Das japanische Tokio, hier eine Ansicht mit dem 332,6 Meter hohen Tokyo Tower.

© picture alliance / dpa

„Tokio, neue Stadt“ von David Peace: Eine mitreißende Reise in Japans gedemütigte Nachkriegsgesellschaft

David Peace hat den Kriminalroman neu erfunden. In „Tokio, neue Stadt“ erkundet er eine Gesellschaft der Sieger und Besiegten. Es ist ein Roman voller Härten – und Zartheit.

Ein Mann, überrollt von einem Zug am Rand von Tokio; ein Körper, zerfetzt in Gewebeteile, zertrümmert zu Knochensplittern: So beginnt David Peace seinen dritten Roman über Tokio und Japan in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. „Tokio, neue Stadt“ ist kein geradeaus geschriebener Kriminalroman – die Geschichte mutet an wie eine Forschungsreise in die Mentalität eines zerstörten und gedemütigten Landes und seiner Bewohner.

Sie handelt auch von einem ungelösten Kriminalfall mit politischen Implikationen. Vor allem erkundet sie eine Stadt der Sieger und Besiegten, der Kalten Krieger und der Traditionalisten, die ihren Stolz und ihr Gesicht verloren haben. Es ist ein Roman voller Härten und voller Zartheit.

[David Peace: Tokio, neue Stadt. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, München 2021. 432 Seiten, 24 €.]

David Peace gilt der Kritik als ein Autor, der den Kriminalroman neu erfunden hat. Bekannt geworden ist er als Verfasser von vier betonharten Krimis über Nordengland in den siebziger und achtziger Jahren. Damals hielt eine Mordserie die Region gefangen, der Täter war als „Yorkshire Ripper“ berüchtigt.

Schon in diesen Geschichten beschäftigte sich Peace mehr mit der Atmosphäre Nordenglands, mit der Beklemmung, die die Polizisten an den Leichenfundorten überkam, mit der Art, wie Männer und Frauen miteinander umgingen, mit den Kneipen, in denen die Ermittler ihre Müdigkeit ertränkten. All das prägte die Bücher mindestens so stark wie die Jagd nach einem brutalen, psychopathischen Killer.

Militärs, Geheimdienste und die Yakuza

Mit „GB 1984“, dem letzten Band der Serie, erschloss Peace sich die Sphäre des Politischen. Der Bergarbeiterstreik mit dem legendären Arthur Scargill als Gewerkschaftsführer und Widersacher der konservativ-liberalen Premierministerin Margaret Thatcher bildete die Bühne einer Polit-Intrige, eines Machtkampfs, dessen Kombattanten verschwörerische und kriminelle Methoden anwandten.

Und nun das Nachkriegs-Japan: eine Gesellschaft, deren Normen nur noch in Resten zu erkennen sind; eine Besatzungsmacht mit eigenem, selbstherrlich zelebrierten Wertekodex; eine Lage, in der verschiedenste Kräfte zu wirken versuchen, Militärs, Geheimdienste, die japanische organisierte Kriminalität in Gestalt der Yakuza und die Art einsamster Einzelkämpfer, die Kriege offenbar hervorbringen.

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Wer hatte das stärkste Interesse am Tod des Mannes auf dem Eisenbahngleis, des Präsidenten der Nationalen Eisenbahngesellschaft mit dem Namen Sadanori Shimoyama? Als „Shimoyama-Zwischenfall“ ist der Vorgang in die japanische Nachkriegsgeschichte eingegangen. In Verbindung mit zwei anderen Eisenbahn-Unglücken, die auf kommunistische Sabotage zurückgeführt wurden, entstand 1949 eine anti-kommunistische Stimmung in Japan, die einem wirtschaftsliberalen Kurs den politischen Weg bereitetet.

Drei Versuche der Aufklärung

Peace setzt dreimal an, um den Fall zu klären: 1949 versucht der in Tokio stationierte amerikanische Ermittler Harry Sweeney, den oder die Täter und überhaupt ein überzeugendes Motiv für Shimoyamas Tod zu finden. War es Rache für die Entlassung von 30000 Eisenbahner, die der sanfte, so gar nicht hart marktwirtschaftlich denkende Shimoyama zu verantworten hatte? War es eine Intrige, angezettelt von russischen Kommunisten, um die gedemütigten Japaner aufzuhetzen und die Amerikaner zu treffen? Oder eine von den Geheimdienstlern der Besatzer kunstvoll gefertigte Falle, um die linken Gewerkschafter unter den Eisenbahner kaltzustellen? Sweeney jedenfalls scheitert.

Der zweite Versuch der Aufklärung: 1964. Ein japanischer Privatdetektiv, dem chinesischen Wein und der Melancholie verfallen, soll einen verschwundenen japanischen Krimiautor finden. Der hatte über den Fall Shimoyama ein geheimnisvolles Manuskript verfasst und danach offenbar einen seelischen Zusammenbruch erlitten. Murota Hideki scheitert, gehetzt von seiner Paranoia, von Phantasien und Wahnvorstellungen.

Der dritte Versuch, 1988: Donald Reichenbach, ein Amerikaner mit dunkler, geheimdienstlicher Vergangenheit, kommt zurück nach Tokio, in seine Traumstadt. Er war 1949 dort, als der Präsident der Eisenbahngesellschaft entführt und getötet wurde. Was damals war, hat Reichenbach nie mehr losgelassen.

Ein Thriller mit enormer Zugkraft

Peace webt in allen drei Teilen Texturen aus Erinnerungen und Gefühlen, aus Traditionen und Ideen, aus Liebe zu einer fremden Kultur und einem Beharren auf Traditionen. Er baut dichte Szenerien, ganz gleich, ob er beschreibt, wie ein Amerikaner mit seinem japanischen Ermittlerkollegen umgeht oder wie ein japanischer Privatdetektiv nebenher einen Ehebruch aufklärt.

Der ganze Roman hat nichts von einem Thriller, der mit enormer Zugkraft von der Tat bis zum Finale erzählt, auch wenn er es vor kurzem auf Platz eins der Krimibestenliste schaffte. Vielmehr wirkt „Tokio, neue Stadt“, als habe David Peace, der seit vielen Jahren in Tokio lebt, diesen Roman mit dem Tuschepinsel verfasst, mit feinem Sinn für jedes Zeichen, jeden Lichtschimmer, jeden Schatten und einen fast lyrischen Sinn für die Orte, an denen sich entscheidet, wie die Geschichte weitergeht. Und mit Sinn für eine Fremdheit im Fühlen und Denken, im Verhalten und im Sein, die erhalten bleibt und doch verständlich wird.

„Tokio, neue Stadt“ ist ein Roman der dichten, komplexen Bilder aus dem Reich der Zeichen – und somit viel mehr als die Geschichte eines ungeklärten Verbrechens.

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