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Titanic-Untergang: Frauen und Kinder zuerst!

Als die Titanic 1912 untergeht, bleiben in den Rettungsbooten mehr als 400 Plätze leer. Viele Männer steigen nicht ein, weil ihre Erziehung es verbietet.

Von Andreas Austilat

Das Hindernis war auf keiner Seekarte verzeichnet. Das Schiff, angetrieben durch Dampfkraft, komplett aus Eisen und damit eines der modernsten seiner Zeit, hatte keine Chance. Am 26. Februar 1852 gegen 1 Uhr 40 in der Nacht lief die HMS Birkenhead, ein britischer Truppentransporter mit 680 Passagieren und Besatzung, vor der Küste Südafrikas auf ein Riff. Binnen Sekunden strömte tonnenweise Wasser in das Leck zwischen Bug und Maschinenraum, Hunderte starben noch unter Deck.

Oben zeichnete sich ein weiteres Drama ab. Die Zahl der Rettungsboote der HMS Birkenhead reichte bei Weitem nicht für die Menschen an Bord. Und so erging nicht der bis dahin bei Schiffskatastrophen übliche Befehl „Jeder für sich“. Stattdessen ließ Lieutenant Colonel Alexander Seton, kommandierender Offizier an Deck, die Marinesoldaten antreten und befahl „Stillgestanden“. Dann wurden alle Frauen und Kinder in die Boote beordert. Kaum mehr als 100 der Männer überlebten, an Wrackteile geklammert, über 400 ertranken oder wurden von Haien zerrissen. Doch alle Frauen und Kinder erreichten unverletzt das rettende Ufer.

Das viktorianische England konnte die Toten nicht genug preisen. Ein Denkmal wurde errichtet, Dramen und Gedichte wurden verfasst, Alexander Setons Befehl erlangte als „Birkenhead Drill“ Berühmtheit. Er wirkte nach, auch wenn er nirgends als allgemeingültige Regel ins Seerecht aufgenommen wurde. Und er sollte Leben kosten, und zwar wenig überraschend das von sehr vielen Männern.

60 Jahre nach der HMS Birkenhead erlebte ein anderes Schiff seine Schicksalsstunde – genaugenommen waren es zwei Stunden und 40 Minuten. Am 14. April 1912 um 23 Uhr 40 rammte die RMS Titanic südöstlich von Neufundland einen Eisberg.

Warum sie es tat und ob die Katastrophe zu verhindern gewesen wäre, darüber wird bis heute gestritten.

Nein, die Titanic war nicht auf der Jagd nach dem Blauen Band für die schnellste Ozeanüberquerung, dafür war das größte Schiff seiner Zeit – wobei bereits im Mai 1912 in Deutschland die größere Imperator vom Stapel lief – bauartbedingt zu langsam. Doch, sie fuhr mit voller Kraft in ein Eisfeld, von dessen Existenz Kapitän Smith wusste. Nein, die Reederei hatte die Titanic nie als unsinkbar bezeichnet, sondern nur als „praktisch unsinkbar“, so stand es in einer Werbebroschüre. Und es ist auch keineswegs ausgemacht, dass der Erste Offizier, William McMaster Murdoch, das Schiff hätte retten können, wenn er den Eisberg frontal gerammt hätte, statt den Versuch zu unternehmen, ihn in letzter Sekunde zu umfahren.

All diese Debatten sind freilich an jenem 14. April um 23 Uhr 40 unwichtig. Schnell erkennt Chefingenieur Thomas Andrews den wahren Ernst der Lage. Er ist als Leiter der neunköpfigen Guarantee Group an Bord, die im Namen der Werft auf der Jungfernfahrt feststellen soll, ob alles planmäßig läuft mit der Titanic. Andrews fängt an zu rechnen und kommt bald zu dem Ergebnis, dass das Schiff binnen 90 Minuten sinken wird. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich 2200 Menschen an Bord. Auch wenn sie es noch nicht wissen, für sie beginnt jetzt der Kampf ums Überleben. Denn rein rechnerisch gibt es nur für jeden zweiten Passagier Platz in einem Rettungsboot.

Charles Herbert Lightoller, Zweiter Offizier, erlebt die Kollision in seiner Unterkunft und beschreibt sie später als ein leichtes Zittern im stählernen Rumpf. Lightoller ist 38 Jahre alt und ein harter Bursche. Seit seinem 13. Lebensjahr fährt er zur See. Er hat als Junge mit angesehen, wie ein stolzer Segler im Sturm alle Masten verlor, ist im Indischen Ozean mit der „Holt Hill“ untergegangen und hat acht Tage als Schiffbrüchiger auf einer winzigen Insel verbracht. Er war Goldgräber in Alaska und Cowboy in Kanada. Seit zwölf Jahren fährt er für die White Star Line. Einem wie Lightoller ist der Birkenhead Drill sicherlich wohlbekannt.

Später sagt Lightoller vor der Untersuchungskommission aus, er habe Kapitän Smith gegen 0 Uhr 40 das letzte Mal gesehen. Er habe gefragt: „Soll ich die Frauen und die Kinder in die Boote bringen?“. Smiths Antwort: „Tun Sie das und lassen Sie wegfieren.“ In den Akten liest sich das wie ein Gespräch beim Tee. 1936 sendet die BBC ein 22-minütiges Radiointerview mit Lightoller. Danach klingt das Geschehen ungleich dramatischer: Die Maschinen stehen immer noch unter Dampf, der mit lautem Heulen aus den Ventilen quillt. Lightoller muss in dem Höllenlärm seine Hand um Smiths Ohr formen und seine Frage brüllend stellen. Dann begibt er sich zum Deck auf der Backbordseite und lässt die Rettungsboote klarmachen.

Der deutsche Passagier Alfred Nourney ist damals 20 Jahre alt. Nourney wird 50 Jahre später ein Fernsehinterview geben. Darin behauptet er, dass sich niemand an die Regel „Frauen und Kinder zuerst“ gehalten habe. Im Gegenteil, wer irgend konnte, habe versucht, einen Platz zu ergattern. Ihm selbst sei das erst im zweiten oder dritten Boot gelungen. Doch das kann nicht stimmen.

Tatsächlich ist durch Zeugenaussagen recht genau dokumentiert, wer wann in welchem Rettungsboot saß. Alfred Nourney gab sich an Bord als Baron von Drachstedt aus, angeblich habe er sein Glück als professioneller Glücksspieler versuchen wollen. Nourney hatte für die Zweite Klasse eingecheckt, an Bord erwarb er ein Upgrade. Im Moment des Untergangs kann keine Rede davon sein, er habe im Tumult seine Chance erst im dritten Boot gefunden. Nourney verlässt um 0 Uhr 45 mit dem ersten Rettungsboot die Titanic. Es trägt die Nummer sieben, ist nicht einmal zur Hälfte belegt, und es sind mehr Männer darin als Frauen.

Ob er den Befehl „Frauen und Kinder zuerst“ gehört habe, wird später auch der amerikanische Millionär Dickinson Bishop gefragt, der sich ebenfalls in Nummer sieben retten konnte. „Nein“, antwortet der. Bishops Frau Helen, die als erste Passagierin überhaupt ein Boot bestieg, behauptet, Ehemännern sei ausdrücklich erlaubt worden, ihre Frauen zu begleiten. Im Übrigen beschwert sie sich über einen deutschen Baron, der sich geweigert habe zu rudern.

Nourney und Bishop haben in dieser Nacht doppelt Glück. Zum einen, weil sie in der Ersten Klasse reisen und damit den kürzesten Weg in die Boote haben. Zum anderen, weil sie das Deck auf der Steuerbordseite betreten, wo der Erste Offizier William McMaster Murdoch kommandiert. Murdoch hat zu Beginn der Evakuierung Probleme, überhaupt Frauen zu finden, die bereit sind, das hellerleuchtete Schiff zu verlassen, um sich in einer Nussschale 20 Meter tief in die schwarze See abseilen zu lassen. Findet er keine Frauen, setzt er eben Männer hinein.

Hätten Nourney und Bishop das Bootsdeck auf der Backbordseite betreten, wäre fraglich, ob sie überlebt hätten. Denn dort hat Lightoller den Befehl. Ihm unterstehen alle Boote mit geraden Nummern. Als erstes wird dort Nummer sechs mit 19 Frauen und zwei Männern von der Besatzung hinabgelassen. 65 Passagiere hätten hineingepasst. Erst als die Frauen protestieren, zwei Männer seien zu wenig zum Rudern, lässt Lightoller noch einen männlichen Passagier einsteigen. Der Kanadier Arthur Peuchen versichert ihm, er könne mit einem Boot umgehen. Peuchen muss später mit dem Vorwurf leben, ein Feigling zu sein.

So geht es weiter, Boot um Boot, immer nur zwei Männer, der Rest Frauen und Kinder. Sind von denen nicht genug zur Stelle, bleiben die übrigen Plätze oft unbesetzt. Allerdings wird es leichter, Frauen zu finden, die freiwillig das Schiff verlassen. Zumal es nach einer Stunde keine 20 Meter mehr, sondern nur noch sechs Meter bis zur Wasseroberfläche sind, als mit Nummer vier das letzte der regulären Boote abgelassen wird. Jetzt sind nur noch drei Faltboote übrig, von denen zwei feststecken. Die Frage, ob der Befehl „Frauen und Kinder zuerst“ ergangen ist, spielt später bei den Gerichtsverhandlungen in den USA und England eine Rolle. Wohlwollend wird festgestellt, dass die überwiegende Zahl der Männer still beiseite getreten sei, um den Frauen den Vortritt zu lassen. Auch wenn es immer wieder Gerüchte gab, zum Schluss hätten Offiziere von der Waffe Gebrauch gemacht, um Passagiere vom Sturm auf die letzten Boote abzuhalten. Die Version in James Camerons Film „Titanic“ von 1997, der dieser Tage in 3D erneut in die Kinos kommt, ist umstritten. Danach hätte der Erste Offizier Murdoch zunächst einen Passagier erschossen und dann sich selbst.

706 Passagiere werden am Ende gerettet, über 1150 hätten es seien können, wären alle Boote voll besetzt gewesen. Zu den Geretteten gehören alle Kinder der zweiten und vier der fünf Kinder in der Ersten Klasse. Von den Frauen an Bord überleben 97 Prozent aus der Ersten Klasse und fast 90 Prozent aus der Zweiten. Sehr viel schwieriger ist es für Frauen und Kinder der Dritten Klasse. Wahrscheinlich nicht, weil ihnen der Weg zu den Booten mit Absicht versperrt wird, sondern weil der Weg aus den unteren Decks lang und unübersichtlich ist. Es gibt keinen Alarm, keine Lautsprecheransagen, keine markierten Rettungswege. Trotzdem überleben 46 Prozent der Frauen und 34 Prozent der Kinder in der Dritten Klasse.

Ganz anders das Bild bei den Männern. In der Ersten Klasse rettet sich immerhin jeder Dritte. Von den 465 Männern der Dritten Klasse schaffen es nur 75, das sind gerade einmal 16 Prozent. Noch schlechtere Karten haben die Männer der Zweiten Klasse. Von 168 gehen 154 mit dem Schiff unter, so wie es ihnen der Ehrenkodex des viktorianischen Zeitalters gebietet. Schlimmer ergeht es eigentlich nur den Ingenieuren, die die Stromversorgung bis zum Schluss am Laufen halten, und Thomas Andrews Garantiegruppe. Die sterben alle neun.

In den Zeitungen wird der Heldenmut von vier der reichsten Männer der Welt herausgestrichen, Benjamin Guggenheim, George Widener, Hotel-Magnat John Jacob Astor und Kaufhaus-König Isidor Straus ertranken in der See. Straus starb mit seiner Frau, die ihn nicht allein lassen wollte, noch drei weitere Frauen der Ersten Klasse taten es Frau Straus gleich. Später wird das Los der Menschen in der Dritten Klasse beklagt, die den Klassenschranken ihrer Zeit zum Opfer gefallen seien, weil ihr Schicksal keinen scherte. Was nur zum Teil stimmt. Wenigstens ein Steward, John E. Hart, begibt sich zwei Mal in die Tiefen des Schiffs, um Passagiere der Dritten Klasse nach oben zu führen. Von der Zweiten Klasse spricht niemand, ebenso wenig davon, warum gerade die Männer dieser Klasse die Ideale ihrer Zeit offenbar am stärksten verinnerlicht hatten und stumm in den Tod gingen. In den unzähligen Dokumenten ist jedenfalls kein lässiger Spruch wie der eines John Jacob Astor überliefert, der gesagt haben soll, „so viel Eis hatte ich nicht bestellt“.

Für den Erlanger Soziologen Henrik Kreutz ist die sinkende Titanic Beleg dafür, dass die Klassenschranken wider Erwarten in der Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg weniger wirksam waren als die Geschlechterrolle, die vom Mann im Ernstfall den Selbstmord verlangte. Eine Rolle, die sich im Krieg fortsetzte und mit dem sinnlosen Anrennen gegen feindliche Gräben ad absurdum geführt wurde.

Womöglich steht dann der Untergang des Passagierdampfers Lusitania, der 1917 von einem deutschen Torpedo versenkt wird, bereits für das Ende dieser Epoche. Auf der Lusitania ist der Anteil der Männer, die sich retten können, erheblich höher, Frauen haben schlechtere Chancen. Allerdings versinkt die Lusitania binnen 20 Minuten, was später eine Forschergruppe um den Schweizer Bruno Frey schlussfolgern lässt, dass Erziehung Zeit braucht, um wirkungsmächtig zu werden. Die Männer der Titanic hatten zweieinhalb Stunden, die Konsequenzen ihres Handelns zu durchdenken. Mit dem Ergebnis, dass viele gar nicht erst versuchten, einen Platz in halbleeren Booten zu ergattern.

Natürlich wird auch Charles Lightoller gefragt, wann er denn die Titanic verlassen habe. Immerhin sind doch Kapitän Edward Smith, Chief Officer Wilde und der Erste Offizier Murdoch mit der Titanic untergegangen. Lightoller ist der ranghöchste Überlebende – sieht man von Bruce Ismay ab, dem Vorstandsmitglied der White Star Line, der sich in einem Rettungsboot in Sicherheit bringt und dafür schon damals in den Zeitungen mit der Rolle des Bösewichts bestraft wird. Lightoller antwortet, nicht er habe die Titanic verlassen, sondern sie ihn. Tatsächlich sank ihm das Schiff unter den Füßen weg, zog ihn mit hinunter, bis eine Luftblase ihn wieder an die Oberfläche riss. Lightoller erreichte das Klappboot B, das sie nicht mehr hatten flott machen können und das nun kieloben im Wasser trieb. 30 Männer klammerten sich an dieses Boot, zehn überlebten, unter ihnen Lightoller.

Ein Jahr nach dem Untergang der Titanic einigen sich die großen seefahrenden Nationen auf die „Internationale Konvention zum Schutz des menschlichen Lebens auf See“. Darin wird festgelegt, dass alle Schiffe im Transatlantikverkehr künftig nicht nur Funkstationen mitzuführen haben, diese müssen auch rund um die Uhr besetzt sein. Ausgerechnet auf dem mutmaßlich der Titanic am nächsten liegenden Schiff, der Californian, war der Funker in der verhängnisvollen Nacht schon schlafen gegangen. Rote Raketen sollen künftig als Zeichen von Seenot gelten, die Titanic hatte nur weiße mit sich geführt, deren Lichter auf der California als Feuerwerk gedeutet wurden. Und künftig soll für jeden Passagier an Bord ein Platz im Rettungsboot bereitgehalten werden. Eine Vorschrift, die für die Titanic noch nicht galt, die aber auch nicht viel genutzt hätte. Obwohl man vergleichsweise viel Zeit hatte, gelang es nicht einmal, alle vorhandenen Boote zu Wasser zu lassen. Die Konvention gilt in modernisierter Form noch heute.

Lightoller fährt nach dem Unglück weiter für die White Star Line, ein eigenes Kommando bekommt er dort nicht mehr. Im März 1940, der Zweite Weltkrieg ist inzwischen ausgebrochen, schließen die Deutschen die britische Expeditionsarmee am Strand von Dünkirchen ein. Fast 400 000 Mann sehen der Vernichtung oder doch wenigstens deutscher Gefangenschaft entgegen, da entschließt sich die britische Admiralität zu einer beispiellosen Aktion: Jeder britische Bootseigner wird aufgefordert, sein Boot für die Evakuierung der Truppe herzugeben, auch der inzwischen 66 Jahre alte Lightoller. Der weigert sich, fährt stattdessen mit seinem Sohn selber über den Kanal.

Vor dem Titanic-Ausschuss hatte Lightoller auf die Frage, warum er nicht mehr Passagiere in die Boote habe steigen lassen, erwidert, er sei nicht sicher gewesen, ob die das aushalten würden. Im März 1940 lädt er am Strand von Dünkirchen 130 wartende Männer in sein Boot, das zuvor nie mehr als 21 getragen hat.

Das neueste Buch zum Thema hat Linda Maria Koldau geschrieben: „Titanic – das Schiff – der Untergang – Die Legenden“ erschienen bei C.H.Beck (304 Seiten, 19,95 Euro). Koldau bietet nicht nur eine sehr gut recherchierte Chronik des Untergangs, sie würdigt auch die zahlreichen Legenden bis hin zu James Camerons Film.

Wer es noch genauer wissen will, dem seien die englischsprachigen Internetseiten www.encyclopedia-titanica.org und www.titanicinquiry.org empfohlen, mit zahlreichen Fakten, Biographien und Gerichtsakten.

Die BBC hat Tondokumente auf www.bbc.co.uk/archive/titanic/ mit Augenzeugenberichten gesammelt.

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