zum Hauptinhalt
Ein Flüchtlingsschiff auf dem Mittelmeer.

© picture alliance / dpa

Thriller "Havarie" von Merle Kröger: Sinkende Preise

Merle Kröger beleuchtet in ihren Thriller „Havarie“ die Öknomie der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer.

Eine versteckte Bucht, nicht weit von der algerischen Hafenstadt Ghazaouet. Die Nacht ist windig, und die Männer wärmen sich an dem Feuer, in dem sie ihre Pässe verbrannt haben. Dann steigen sie in das Schlauchboot. Karim Yacine reißt an der Zündleine des Außenbordmotors, schaltet das GPS ein und nimmt zwischen hohen Wellentälern Kurs auf Spanien. Plötzlich schneidet ein Lichtstrahl durch die Nacht. Die Küstenwache. Schüsse peitschen über das Meer, einer der Männer geht über Bord. Motor aus. Stille. „Keiner sagt ein Wort. Alle denken dasselbe. Wenn er Glück hat, ziehen sie ihn rechtzeitig aus dem Wasser. Wenn nicht ...“

Das Mittelmeer ist das Meer der Toten. Allein in diesem Jahr haben mehr als 100 000 Menschen versucht, über das Wasser nach Europa zu fliehen, und niemand weiß, wie viele von ihnen dabei ihr Leben verloren haben: Merle Krögers Thriller „Havarie“ führt gleich auf den ersten Seiten mitten hinein in die Nachrichtenaktualität, die in den letzten Wochen und Monaten durch immer neue Schreckensmeldungen über afrikanische Flüchtlinge bestimmt war, in einen politischen Diskurs, der durch katholisches Glockengeläut, Visasperren und den Ruf nach robusten Militäreinsätzen bestimmt wird. Auch wenn Kröger natürlich schon länger an diesem Roman gearbeitet haben muss: Dieses Buch kommt genau zur richtigen Zeit.

Spanische Fischer finden einen Toten in der Reuse

Es ist nur konsequent, dass das Tempo des Textes sich am Takt der Schlagzeilen, Tickermeldungen und Newsportale orientiert. Merle Kröger führt sehr schnell eine ganze Reihe von Figuren ein. Den sympathischen Bootsführer Karim Yacine und seine schwangere Frau Zohra, die in Spanien auf ihn wartet. Den Ukrainer Oleksij Lewtschenko, Maschinist an Bord der „Siobhan“, eines Containerschiffs, das sich auf dem Mittelmeer nur mit Mühe gegen die Konkurrenz der „immer größeren Schiffe“ behauptet. Den spanischen Fischer Diego Martínez, der mit seinem Vater in dieser Nacht wieder einmal in einer Reuse einen Toten findet. Und eine ganze Handvoll Menschen, die auf der „Spirit of Europe“ arbeiten, dem drittgrößten Kreuzfahrtschiff der Welt: León Moret, erster Offizier. Lalita Masarangi, Angestellte eines weltweit agierenden Security-Unternehmens. Ihr Chef, der Ex-Elitesoldat Nikhil Mehta. Und der syrische Medizinstudent Marwan Fakhouri, ein „Illegaler“, der im Bauch der „Spirit of Europe“ in der Wäscherei schuftet und nach einem Arbeitsunfall zum Problem geworden ist.

Jede dieser Figuren bringt eine Geschichte mit, in biografischen Bruchstücken, die sich in genau jenem Moment verkanten, als Karim Yacine das Benzin ausgeht, sein Schlauchboot auf die „Spirit of Europe“ trifft – und vor den Augen (und Handy-Kameras) der Passagiere „steuerbord längsseits“ im Meer dümpelt. Eine Havarie. Eine Chance?

Merle Kröger ist Dokumentarfilmerin und Autorin. Ihre Thriller gehören in ein Genre, das man Doku-Fiction nennen kann. Vor zwei Jahren wurde sie für ihren Roman „Grenzfall“ mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Der Stoff war direkt der Realität entnommen. Anfang der neunziger Jahre waren in einem Kornfeld in Mecklenburg-Vorpommern zwei Roma erschossen worden, die bei Nacht die deutsch-polnische Grenze überquert hatten: Jäger hatten sie angeblich für Wildschweine gehalten. Für ihren Dokumentarfilm „Revision“ (2012, mit Philipp Scheffner) hatte Kröger die Hintergründe dieses Dramas recherchiert: Rassismus, dilettantische Ermittlungen, eine erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber den in Rumänien lebenden Angehörigen der Opfer. „Grenzfall“ nimmt diese Recherchen auf, legt allerdings eine fiktionale Ebene darüber, die aus dem ganz realen deutschen Trauerspiel einen brutal realistischen Politthriller macht.

Algerisches Roulette: Drei Boote starten, eins kommt durch

„Havarie“ funktioniert erst einmal ähnlich. Die Figuren und ihre Geschichten beruhen auf Recherchen, und der abgehackte Stil und der schnelle Wechsel der personalen Erzählperspektive – Standardverfahren in marktgängigen Thrillern – machen aus diesem Material einen echten Pageturner. Trotzdem ist der Zugriff auf die Realität in „Havarie“ noch einmal schärfer und konzentrierter, denn Merle Kröger hat eine dritte, gewissermaßen analytische Ebene eingezogen.

Diese scheint gleich am Anfang des Romans durch, als Karim Yacine „drei Schlauchboote zum Preis von zweien“ angeboten werden. Grund ist „die neue Masche mit den Massenstarts“, auch algerisches Roulette genannt: „Drei starten, eins kommt durch. Die Pech haben, ersaufen vor den Augen der Küstenwache“. Ein mörderisches Glücksspiel. Und: ein Geschäft mit dem Tod. In den Geschichten, die Merle Kröger auf dem Mittelmeer und in den krisengeschüttelten Anrainerstaaten aufgelesen hat, geht es immer wieder ums Geld. Um den Preis, den man für einen falschen Pass bezahlen muss. Um die Mikrokredite, mit denen die Entwicklungshilfeprogramme der europäischen Staaten Menschen in Afrika davon abbringen wollen, ihre Heimat Richtung Norden zu verlassen. Um die asymmetrischen Warentransfers, in die Schiffe wie die „Siobhan“ eingebunden sind: „Volle Container nach Afrika und leere zurück nach Europa. Algerien konsumiert. Export gleich null.“

Von einem illegalen Arbeiter ohne Papiere will niemand etwas wissen

Oder um das knallharte Kalkül mit dem Urlaubsglück auf dem Kreuzfahrtschiff: Jede Minute, die die „Spirit of Europe“ bei dem havarierten Schlauchboot bleibt, um auf die Küstenwache zu warten, ist ein Kostenfaktor, der in der Konzernzentrale in Miami für Unruhe sorgt. Und von einem illegalen Arbeiter ohne gültige Papiere will dort auch niemand etwas wissen: „Lösen Sie das Problem.“

Darum geht es: Hinter dem „Schicksal der Flüchtlinge“, hinter der „menschlichen Katastrophe“, von der in den Medien in den letzten Wochen und Monaten immer wieder die Rede war, steckt ein komplexer ökonomischer Zusammenhang. „Havarie“ ist darum eigentlich kein Politthriller, sondern ein extrem politischer Thriller. Merle Kröger erzählt davon, wie der Preis für ein Menschenleben im globalen Kapitalismus ständig neu berechnet wird. Und wie dieser Preis stetig fällt.

Merle Kröger: Havarie. Roman. Ariadne Verlag, Hamburg 2015. 227 Seiten, 15 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false