zum Hauptinhalt
Der deutsche Schriftsteller Thomas Mann (undatiertes Archivfoto).

© picture alliance / dpa

Thomas Manns "Späte Erzählungen": Zwischen Idyll und Kulturbruch

Reifeprüfung eines politischen Schriftstellers: Thomas Manns „Späte Erzählungen“ in einer kommentierten Ausgabe

Thomas Mann warnte schon zu Beginn seiner als „Idyll“ bezeichneten Erzählung „Herr und Hund“, dass es bei der Charakterisierung seines „Hühnerhundes“ Bauschan mitnichten um „höhere Probleme der Sittlichkeit“ oder gar Lösungen gesellschaftlicher Fragen gehe.

Im Ernst? Eine Idylle, die schon zur Zeit ihrer Entstehung eine bedrohte Gattung war? Ist das noch lesbar? Allerdings, erweist sich doch des Menschen bester Freund als sein perfektes Spiegelbild im Spannungsfeld von Natur und Kultur. Unpolitisch verfährt der Ironiker Mann in seiner auf jeden Plot-Ansatz verzichtenden Kontemplation über einen Vierbeiner nur scheinbar.

Tatsächlich schlägt der in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von 1918 noch reichstreu konservative Vertreter eines „deutschen Sonderwegs“ hier einen alternativen Weg ein und nähert sich mit einem leicht degenerierten Hund an der Leine seiner späteren progressiven demokratischen Haltung an.

Die Erzählung erschien 1919, zum Auftakt des ersten deutschen Demokratieexperiments. Die vorgebliche Weltflucht erinnert sehr an Peter Handke – den der Pilze und stillen Orte –, mit dem Mann auch einen ausgeprägten Hang zur Manieriertheit teilt.

"Herr und Hund" ist ein autofiktionaler Text

Indirekt ist das Idyll Ausdruck politischer Aufgewühltheit. Mann findet Gefallen am „volkstümlich schlichten Sinn“ Bauschans, der nur Mäuse fängt, statt Fasane oder Hasen.

Hier liegen die Wurzeln des späteren Antifaschisten, der sich zur Sozialdemokratie bekennt („Bekenntnis zum Sozialismus“), früh vor den Nazis warnt („Ein Appell an die Vernunft“) und aus dem Exil via BBC über deren Schandtaten aufklärt („Deutsche Hörer“).

„Herr und Hund“, ein autofiktionaler Text – wie er heute beispielsweise durch Annie Ernaux, Karl Ove Knausgård oder Rachel Cusk wieder in Mode gekommen ist – eröffnet den jetzt innerhalb der Großen kommentierten Frankfurter Thomas-Mann-Ausgabe erschienenen Band „Späte Erzählungen 1919-1953“. (Text und Kommentar in einer Kassette. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 544 Seiten, 155 €.)

Ihr folgen zwei „Kindergeschichten“, der „Gesang vom Kindchen“, in den bereits einige Moses-Motive eingewoben sind, und „Unordnung und frühes Leid“, eine einfühlsame Erzählung vom Liebeskummer eines kleinen Mädchens, in der eine Figur auftritt, die Mann als „sympathischen Bolschewisten“ charakterisiert.

[Alle wichtigen Updates des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]

Das Politische nimmt sich immer seinen Raum. Ganz offenkundig geschieht das in der berühmten Novelle „Mario und der Zauberer“ von 1930, in der eine deutsche Familie im Urlaub am Tyrrhenischen Meer Diskriminierungen ausgesetzt ist.

Die Stimmung in Italien ist so schwül und drückend wie der Spätsommer. „Man verstand bald, dass Politisches umging, die Idee der Nation im Spiele war“: der Faschismus. Die Spannung gipfelt – und entlädt sich – im Auftritt eines Zauberers „mit kleinem, schwarz gewichstem Schnurrbärtchen“ vom „Typus des Scharlatans, des marktschreierischen Possenreißers“, der eine Art populistische Verführung exerziert.

Thomas Mann verfährt durchaus parteiisch, wobei der Text weit mehr ist als eine bloße Faschismus-Parabel, als die sie allerdings zu Recht interpretiert wird und die nach wie vor ihre Aktualität besitzt.

Der Wandel von Manns politischer und zunehmend kritischer Haltung, der den späten Erzählungen zu entnehmen ist, spiegelt sich auch in den Porträts des Fotobandes „Thomas Mann - Ein Schriftsteller setzt sich in Szene“ (WBG 2021, 272 Seiten, 60 €.), der zahlreiche bislang unveröffentlichte Aufnahmen enthält.

"Das Gesetz" ist ein Bekenntnis: moralisch, politisch

Mann wirkt mit zunehmendem Alter nachdenklicher, angegriffener – mehrfach ist er an Bord eines Schiffes zu sehen, pendelnd zwischen einem Europa, in dem Nazis und andere Rechtspopulisten den Ton angeben und einer relativen Freiheit in den demokratischen USA.

Unbeschwert erscheint die Rheinländerin Rosalie von Tümmler in „Die Betrogene“ (1953), die als Witwe und Mutter erwachsener Kinder angesichts eines jungen Amerikaners noch einmal körperlich begehrt und sich – scheinbar – verjüngt sieht. Auch in „Die vertauschten Köpfe“ (1940) geht es um „kopflos“ Geschlechtliches.

Ein echtes politisches und moralisches Bekenntnis dagegen stellt „Das Gesetz“ (1944) dar, Thomas Manns gleichzeitig entzaubernde und bezaubernde Moses-Erzählung. Sie ist eine Art Parergon zu seiner großen Joseph-Tetralogie und enthält überdies herrlichen Slapstick und eine Hitler-Karikatur à la Chaplins „Der große Diktator“.

Mann betreibt einen ironischen Faktencheck des Mythos und beschreibt die zehn Gebote humorvoll als eine Zumutung, aber immerhin eine Kultur und Zivilisation stiftende: „das ABC des Menschenbenehmens“. Der Kulturbruch der Nazis wird hier in Form eines erschütternden Wutausbruchs antizipiert.

Thomas Manns Bruder Heinrich, einer der Jubilare dieses Jahres, wird bisweilen – auch in Gegenüberstellung mit seinem Bruder – zum Vorzeige-Demokraten stilisiert. Seine späten Stalin-Elogen werden dabei gerne unterschlagen. Thomas Manns humanistisch geprägter Weg zum Demokraten und engagieten Bürger war ein mühsamer, hart erkämpfter. Vielleicht taugt in dieser Hinsicht doch eher er zum Vorbild.

Tobias Schwartz

Zur Startseite