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„Freinacht“ begann als Internet-Romanprojekt. Der Münchener Schriftsteller Thomas Lang, 52.

©  Peter von Felbert

Thomas Langs Roman „Freinacht“: Etwas Besseres als das Leben

Vier Jugendliche, ein Toter und öder Alltag: Thomas Langs brutal berührender Roman „Freinacht“ über eine unerklärliche Tat.

Um die Freinacht zu feiern, also die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, auch Hexen- oder Walpurgisnacht genannt, treffen sich 2006 zehn 13- bis 17-Jährige in einem Waldstück am Stadtrand von Traunreut im Landkreis Traunstein. Ein Junge der Gruppe streift im Verlauf des Abends durch die Gegend, findet die Leiche eines Mannes und holt seine Freunde. Der 49-Jährige galt als vermisst; in einem Abschiedsbrief hatte er angekündigt, sich zu Tode trinken zu wollen. Suizid, kein Gewaltverbrechen – jedenfalls bis dahin

Die Jugendlichen rufen nämlich nicht die Polizei, stattdessen schleifen sie den toten Körper gute 20 Meter weit, fesseln ihn mit einer Hand an einen Ast, schlagen mit einem Eisenrohr und anderen Gegenständen auf ihn ein, verstümmeln ihn.

Drei der Haupttäter werden später wegen Störung der Totenruhe verurteilt; der vierte wird nicht belangt, weil er zur Tatzeit jünger als 14 Jahre alt ist und damit strafunmündig. Ein Motiv kann das Gericht nicht ausmachen, geht aber von „gruppendynamischen Prozessen, alkoholbedingter Enthemmtheit sowie einer Verrohung aufgrund des von allen eingeräumten gelegentlichen Betrachtens von Gewaltvideos“ aus.

Was ist das für eine Welt, in der wir leben, will man nach den wahren Geschehnissen dieser Freinacht nun fragen, eher rhetorisch. Schließlich weiß jeder längst: eine schlechte. So wie auch Elle, die Heldin in Thomas Langs neuem Roman „Freinacht“. Elle ist 15 Jahre alt und ein leidlich schlichtes Mädchen in der Hölle, die man Pubertät nennt. Ihr größter Hoffnungsschimmer: die Feier ihres 16. Geburtstag, in eben jener Freinacht.

Vielleicht passiert irgendetwas

Vielleicht bekommt sie dann endlich ihre Periode. Vielleicht besteht sie bis dahin ihre Rollerführerscheinprüfung. Vielleicht wird sie erstmals geküsst. Vielleicht passiert irgendetwas. Die Eltern sind geschieden, die Mutter labil, der Vater abwesend, beide nennt sie beim Vornamen. Die einzige Verbindung, die Elle zu den Mädchen in ihrer Klasse hat, wird gespeist aus lähmender Unsicherheit und einem leise schwelenden Neid auf alles, was sie nicht hat: Attraktivität, Popularität, Markenklamotten. Sie dagegen schleppt jeden Tag einen großen, schweren Defizitkatalog mit sich herum. Ihre Tendenz zur Unsichtbarkeit spiegelt sich in ihrer schwarzen Kleidung wider und in den vielen Pflanzen, die in ihrem Kinderzimmer stehen und sie arg metaphorisch zuwuchern.

Elles einzigen sozialen Kontakte sind die übrigen Unsichtbaren von Vierweg, der fiktive Ort, den Lang für seine Geschichte natürlich als provinzielles Niemandsland skizziert. „Vierweg“, ein sprechender Name, bezogen auf die vier Schicksale, die hier ihren fatalen Lauf nehmen: Neben Elle ist da der introvertierte Junis, der kleinkriminelle Dennis und der 13-jährige Vale, das „Kälbchen“. Sie spielen „Games“ und klauen Wodka, kiffen und verschicken Nachrichten über ihre „Phones“. Kurzum: ein tristes Soziotop der Ereignislosigkeit. Nichts ist hier bemerkenswert. Das macht die Lektüre dieses Romans stellenweise schwer erträglich: Weil diese klaffende Leere, die Lang dazu noch so gekonnt absichtslos beschreibt, einen verschluckt. Dass sich der Autor bei seinen Darstellungen nicht selten in etwas zu plakativem Jugendjargon verrennt, in dem jene „Phones“ „möpen“ und „hugs“ verteilt werden – geschenkt.

Thomas Lang ist Bachmannpreisträger des Jahres 2005

Einmal aus dem grauen Brei des Alltags herausbrechen, das möchte Elle. Deshalb verlegt sie ihre Geburtstagsfeier in einen ausrangierten Schuppen auf einem alten Bahngelände. Wäre sie zehn Jahre älter und Designstudentin in Berlin, wäre das vermutlich originell. Aber in Vierweg, wo 16. Geburtstage noch in Kinderzimmern oder im Jugendclub gefeiert werden, flankiert von lächelnden Müttern, die fürsorglich Pizzastückchen reichen, macht es Elle eher noch mehr zum Sonderling, zum misfit. Letztlich kommt niemand der geladenen „Freunde“ zu ihrer Feier, nur Junis, Dennis und Vale, mit denen sie dann den Kloß im Hals mit Schnaps wegzutrinken versucht. „Elle nahm einen großen Schluck und noch einen. Das war der Treibstoff, der sie endgültig rauskatapultierte, durch die Wolken, unter denen ihr ereignisloses Leben verschwand, schoss sie hinauf ins All zu tausend Sternen.“ Bis Dennis schließlich die Leiche findet – und alles eskaliert.

Thomas Lang, Ingeborg-Bachmannpreisträger des Jahres 2005, hat seinem Roman ein reales Verbrechen zugrunde gelegt und daraus einen verstörend realistischen Gesellschaftsroman gebastelt. Allerdings nicht allein. Sechs Monate schrieb Lang einen Roman mit dem Titel „Der gefundene Tod“ live im Internet. Die Leser und Leserinnen konnten die Genese der Figuren und der Handlung verfolgen – und selbst mitwirken, indem sie die Entstehung der Geschichte kommentierten, eigene Ideen und Textentwürfe beisteuerten. Am Ende stand das Gerüst.

Man fragt sich nun: Was will Lang mit „Freinacht“? Ein Verbrechen leicht fiktionalisiert nacherzählen? Eine verrohte Jugendkultur beschreiben? Eine überforderte Gesellschaft infrage stellen, die ihre Kinder in einer enthemmten Social-Media-Welt allein lässt, in einer Welt, die sie selber nicht mehr versteht? Brillant-perfide an diesem Roman ist, dass Lang seinen Figuren und damit dem Leser jedwede Hoffnung nimmt. Auf Besserung, auf Vergessen, auf Erlösung. Zwischen paradoxer Unaufgeregtheit und distanziertem Zynismus gerät das tragische Scheitern zur perversen Kür.

[Thomas Lang: Freinacht. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2019. 336 Seiten, 22 €.]

Ein Giftmord in Raten

Es wird auf viele Weisen gestorben, ganz unsentimental: Frank durch Freitod, Elles Großvater durchs Alter, ihre Mutter an Krebs. Aber dann sind da noch die kleinen Tode, Beziehungstode: Die Liebe zwischen Elles Eltern stirbt, die Beziehung zwischen Vater und Tochter, die Freundschaft zwischen Elle und ihrer ehemals besten Kindergartenfreundin Sophie. Und nicht zu vergessen: der soziale Tod der vier jugendlichen Protagonisten. In letzter Konsequenz ist das wohl der schlimmste Tod von allen – er belässt zwar das Leben, macht aber das Weiterleben unerträglich. Ein Giftmord in Raten. Das Gift: das eigene Versagen, ein ordentliches Mitglied der Gesellschaft geworden zu sein. „Jeder will für immer leben“, sagt Elle anfangs, „aber wer bin ich, zu sagen, ich möchte einfach ein Leben, an das wir uns erinnern werden – wir leben für heute.“ Später verflucht sie die traumatische Erinnerung, die an ihr haftet wie ein unangenehmer Geruch, der sich nicht abwaschen lässt. Sie wünscht sich nur noch „null“ zu sein, „sie musste alles löschen, ganz und gar von vorn anfangen. Aber das konnte sie niemals schaffen, niemand schaffte das.“

Am Ende sind die Figuren zehn Jahre älter. Elle hat nun selbst eine kleine Tochter, Dennis eine neue Identität, Junis einen miesen Job und Vale den Verstand verloren. Sie scheinen nicht viel lebendiger als der tote Frank. Wie Zombies wanken sie durchs Leben, flehend nach Absolution, die nie erteilt wird. Thomas Lang erinnert mit „Freinacht“ an das Humane, das bei allen noch Unversehrten da draußen eben nicht nur eine organische Hülle ist. Sondern die Chance bietet, sich selbst zu retten, so lange es noch geht.

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