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Ein Ort, der im alten Zauber steht. Das Schloss auf der Pfaueninsel, Schauplatz von Thomas Hettches Roman, der im frühen 19. Jahrhundert spielt.

©  Thilo Rückeis

Thomas Hettches Roman "Pfaueninsel": Die Würde der Zwergin

Botanik und Sentiment: Thomas Hettche hat mit "Pfaueninsel" einen kunstvoll historisierenden Roman über einen Ausflugsort vor den Toren Berlins geschrieben. Er ist damit für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Ein Schild am Zaun kündigt Wasserbüffel an, die sich aber nicht zeigen wollen. Über die Sommermonate hat die Züchterin, Ehefrau eines ARD-Moderators, der Verwaltung der Pfaueninsel einige dieser mächtigen, doch zart behuften Wiederkäuer zur Verfügung gestellt, um die Gräser der Feuchtwiesen kurz zu halten. Offensichtlich fühlen sie sich auf dem 67 Hektar großen Eiland in der Havel deutlich wohler als jenes gezähmte, an Hafer und Kartoffeln gewöhnte „Elch-Thier“, das am 7. Oktober 1828 aus Trakehnen eintraf, um den Hofstaat zu delektieren. „Kaum zwei Monate später“, so der Chronist, sei der Elch „trotz Aderlass und Klistieren“ eingegangen. Bedauernd ergänzt er: „Nie endete der Strom der Kreaturen.“

Wer aber ist dieser erkennbar heutige Erzähler in Thomas Hettches gerade für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2014 nominierten Romans „Pfaueninsel“? Selbstsicher schreitet er zwischen dem Holzschlösschen im Süden der Pfaueninsel über das Kavaliershaus bis zur Meierei im Norden sein Gelände ab. Im Verbund mit der außergewöhnlichen Fauna und Flora des von Friedrich Wilhelm II. initiierten Miniatur-Arkadiens schlägt er die herrlichsten metaphorischen Räder, ruft in Gestalt einer Oberhofmeisterin, deren Lächeln bei einer Orgie im Palmenhaus in der Luft verharrt, sogar die „Cheshire Cat“, die Lachkatze, aus Lewis Carrolls' „Alice im Wunderland“ auf.

Zu Anfang – an einem Frühlingstag des Jahres 1810 – nimmt der Erzähler seine Leserschaft huckepack, um der jungen Königin Luise bei der Suche nach einem verschlagenen Crocket-Ball ins Gebüsch zu folgen. Mit einer Frage und einem ausgreifenden Wir gemeindet er das abgeklärte Publikum listig in den preußischen Hofstaat ein: „Eine Königin? Was ist das? Eine Märchengestalt, denken wir, und doch: Dieser hier pulste das Leben am Hals und flackerte über die Wangen, hier, in der schwülen Enge der Bäume, eng um die junge Frau herumgelegt wie jenes Wort sie zu bezeichnen.“

Im Gebüsch trifft Luise auf den Zwerg Christian Friedrich Strakon, der mit seiner jüngeren Schwester Maria Dorothea, genannt Marie, als königlicher Pflegling 1806 aus Rixdorf auf die Insel kam. Als ihr der vermeintliche kleine Junge mit tiefer Männerstimme antwortet, schleudert ihm die entsetzte Luise das Wort „Monster!“ entgegen; wenig später stirbt sie. Dieses Wort wird die Geschwister Strakon ihr Leben lang prägen. Christian endet tragisch als sexuell hyperaktiver Faun, die schwarzhaarige Marie hingegen liebt von Kindesbeinen an Gustav Fintelmann, den Neffen des Königlichen Hofgärtners und späteren Lenné-Schüler. Doch darf sie das, dieser 1,25 Meter große weibliche Däumling mit Säbelbeinen und Sattelnase? Diese existenzielle Frage lässt sie in den intimen Situationen ihres 80 Jahre währenden Lebens immer wieder verstört neben sich stehen. Marie ersehnt sich Liebe im biblischen Sinn von „erkennen“, sie möchte vor allem eines: angesehen werden.

Niemand tut dies so befreiend vorurteilsfrei wie der König (Luises Witwer), als dessen „Ding“ sie sich betrachtet und ihm deshalb einmal in eroticis pragmatisch zur Hand geht. Der Regent kann sich auf ihre Diskretion verlassen, denn Zwerge, versichert der Erzähler eilfertig, gälten seit Alters her als das „schweigende Volk", so wie sie das mineralische Element verkörpern, die „großen Feuer, die im Leib der Erde brennen“. Nicht umsonst fühlt sich Marie dem als Hexer denunzierten Alchemisten Johannes Kunckel verbunden, der im 17. Jahrhundert auf der Pfaueninsel im Auftrag des Hofes Gold herstellen sollte. Er aber verbrauchte es, um ein mineralisches Glas in einem besonders leuchtenden Rotton zu kreieren: „Das mineralische Reich. Sie war ein Ding. So, wie Kunckel das Glas rot machte, machte die Erde, aus der sie kam, die Blumen blau.“ Leitmotivisch leuchtet das Alchemisten-Rot durch den gesamten, zutiefst anrührenden wie verstörenden Roman hindurch.

Wie ist Thomas Hettche nun auf die Zwerge gekommen?

Erzähler mit vielen Tonlagen. Thomas Hettche.
Erzähler mit vielen Tonlagen. Thomas Hettche.

©  Arno Burgi/dpa-bildfunk

Wie ist der in Berlin lebende Schriftsteller Thomas Hettche nun auf die Zwerge gekommen, fragt man sich. Schon der Einband des Buches, blausilbrig glänzend mit einem Pfauenauge, stellt eine optisch-haptische Verführung da. Eine Verführung, das 19. Jahrhundert mit all seinen Ereignissen und Geistesgrößen, Ideen und Erfindungen wie einen Landschaftsgarten zu besuchen: von Hegel, der oft zitiert wird, über Darwin bis Lenné, von den Befreiungskriegen gegen Napoleon bis zur Dampfmaschine, dem Eisenbahnbau und schließlich der Gründung des Deutschen Reiches.

Auf das historisch verbürgte Schicksal der kleinwüchsigen Marie stieß Hettche während eines Stipendiums in Berlin, noch bevor er debütierte. Man merkt dem Text die langwierigen, akribischen Recherchen an, auch das Ringen um die passende Form der Darstellung. Er suchte und fand – das romantische Kunstmärchen, vermengt mit Elementen des Staatsromans aus dem 18. Jahrhundert. Ein historischer Roman ist „Pfaueninsel“ ausdrücklich nicht.

Der nicht gerade großgewachsene Joseph Peter Lenné, Verfechter des geometrischen Landschaftsgartens mit Sichtachsen, stammte von einer belgischen Familie namens Le Neu oder Le Nain (der Zwerg) ab. Ihn stilisiert Hettche zu Maries Antipoden aus ästhetischen Beweggründen. Denn während sie ihr Ziehvater Ferdinand Fintelmann am liebsten an ein Spalier binden würde, damit sie gerade wachse, ist die Zwergin Lenné ein wahrer Dorn im Auge. Mit seinem Leitsatz „Denn nur die Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast“ macht er ihr Angst, ihr Zuhause, in das sie einst als Kuriosum importiert wurde, zu verlieren: „Dass man sie Schlossfräulein nannte, war nichts als ein Maskenspiel in der Spielzeugwelt der Pfaueninsel.“

Wie das Hoffräulein mit großer Lust seine Festtagsgewänder aus Seide, Brokat, Damast anlegt, schlüpft Thomas Hettche in ein vollendetes Sprachkleid aus dem 19. Jahrhundert. Da wird ein Königsmund „zu karpfenhaftem Schweigen geschürzt“, und für die emsigen Inselgärtner gilt es, „Himbeeren und Feigen im Winter sorgsam einzuhausen“.

„Pfaueninsel“ ist aber nicht zuletzt der Roman der tragischen, weil ungleichen Liebe zwischen Marie und Gustav. Der gemeinsame Sohn wird ihr noch als Säugling weggenommen, was sie zerbrechen lässt. In diesen Passagen betreibt der Autor eine vollendete Fontane-Mimikry, man denke nur an „Irrungen, Wirrungen“ (1888): Beide Werke verbindet das Motiv der Entsagung, die „bodenlose Ruhe der Resignation“.

„Wie erzählt man, wenn Zeit erzählt werden soll?“, lautet die Grundfrage dieses Romans. Und davon abgeleitet: Welche Färbung nimmt die Zeit durch das Erzählen ein? Bereits in einem Essay von 1997 hatte sich Hettche mit dem Sehen beschäftigt, das für ihn zu den „glänzenden und farbigen Dingen"“ gehört. Reflexionen über Blicke und Liebe, über weibliche Würde, über ein preußisches Jahrhundert und wie sich das Individuum Marie darin bewegt: All dies materialisiert sich wundersam „an diesem Ort, der doch noch im alten Zauber steht“.

Botanik und Sentiment, Theorie und Sinnlichkeit gehen in „Pfaueninsel“ eine Verbindung ein, die auf unerwartete Weise das Heute spiegelt und die Leserin, den Leser einer literarischen Osmose sondergleichen unterzieht.

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