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Sandra Hüller als Hamlet in Bochum.

© JU Bochum

Theatertreffen 2020: Jetzt sind die Regisseurinnen in der Überzahl

Eine siebenköpfige Jury hat über die bemerkenswerten Inszenierungen des Jahres entschieden: Beim Theatertreffen sind auch Berliner Produktionen vertreten.

Die gute Nachricht vorweg: die Quote konnte erfüllt werden. Sogar überfüllt! Von den zehn „bemerkenswertesten Inszenierungen des deutschsprachigen Raums“, die im Mai wieder das Theatertreffen im Haus der Berliner Festspiele und anderswo bestreiten werden, sind sechs in der Regie von Frauen entstanden. 50 Prozent, das hatte die Festivalleiterin Yvonne Büdenhölzer im vergangenen Jahr in einem kontrovers diskutierten Akt des selektiven Empowerments verfügt, sollten es sein. Auf der Pressekonferenz an der Schaperstraße, wo die sieben Jurorinnen und Juroren traditionell ihre Bestenliste verkünden, wirkt sie jetzt sehr zufrieden.

Nicht nur zufrieden, sondern geradezu erleichtert zeigt sich der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender. Denn die Auswahl spiegele trotz allem, Zitat, "Normalität wieder". Was er wohl befürchtet hat? Dass die Theatertreffen-Jury sich jetzt verstärkt unter Laienspielgruppen in feministischen Nachbarschafts-Kollektiven umschauen muss? Sei's drum. Was die sieben Theaterkritikerinnen und Theaterkritiker aus 432 gesichteten Inszenierungen erwählt haben, bietet keinen Anlass zum Verdacht, hier hätten Gender-Aspekte über künstlerische Qualität gesiegt.

Außerdem ist, zur Beruhigung aller Empörungsbereiten, mit Johan Simons am Regiepult auch ein "jugendlicher Altmeister" (Büdenhölzer) vertreten. Die Einladung seiner Bochumer "Hamlet"-Adaption - mit einer unquotierten Sandra Hüller in der Hauptrolle - war in gut informierten Theaterkreisen schon im Vorfeld für sicher gehalten worden. Wie man hört, spielt die verlässlich großartige Hüller einen fanatisch aufrichtigen Dänenprinzen, der sich die heute unpopuläre Aufgabe stellt, zwischen Fake und Fakten zu unterscheiden. Damit ist das Bochumer Schauspielhaus zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder zum Theatertreffen eingeladen.

Auch Berliner Produktionen sind eingeladen

Was nahtlos zur alljährlich drängenden Frage überleitet, wie denn Berlin im Rennen um die zehn Siegertreppchen abgeschnitten hat? Nicht schlecht. Vom Deutschen Theater kommt Anne Lenks Inszenierung von Molières "Der Menschenfeind" mit Franzisak Machens in der Hauptrolle und mit Ulrich Matthes als Alceste. Lenk verhandle mit dem Klassiker, so war auf der Pressekonferenz zu erfahren, "Konzepte brüchiger Männlichkeit - aber eben nicht nur". Ist ja immer gut, wenn's um mehr als Modethemen geht.

Bei zwei weiteren Arbeiten hat die Berliner Theaterszene zumindest ihre geballte Koproduktions-Potenz eingebracht und darf sie somit auch zum Teilerfolg fürs künstlerische Hauptstadt-Wirken erklären: das HAU ist beteiligt an Anta Helena Reckes "Die Kränkungen der Menschheit", einer kritischen Performance, die den im Titel anklingenden Ego-Migräne-Gründen nach Sigmund Freud (darunter: "Der Mensch stammt vom Affen ab") eine weitere hinzufügt: der weiße Mann ist doch nicht die Krone der Schöpfung.

Und das HAU hat die tolle Arbeit "Chinchilla Arschloch, waswas" von "Rimini Protokoll"-Regisseurin Helgard Haug mit angeschoben, die damit ihre erste Solo-Einladung feiern darf. In ihrer Inszenierung fordern Menschen mit Tourette-Syndrom die Verabredungsgläubigkeit des Theaterbetriebs heraus. Die Sophiensäle schließlich sind mit einer Vielzahl weiterer Partnerhäuser beteiligt an "TANZ - Eine sylphidische Träumerei in Stunts" von Florentina Holzinger ("Kein Applaus für Scheiße"), die einen wilden Mix aus Splatter und Ballett beschwört.

Nur bei Max Frisch klingt die Klimakrise an

"Freie Produktionen auf dem Vormarsch!" - das wäre zwar keine neue oder gar originelle Schlagzeile, aber das Theatertreffen provoziert sie mittlerweile doch in einer erfreulichen Regelmäßigkeit. Wobei sich die großen Häuser teilweise gleichfalls als horizontoffene Koproduzenten bewähren. Wie Matthias Lilienthals Münchner Kammerspiele. Die sind an "TANZ" und "Kränkungen der Menschheit" beteiligt. Und obendrein noch mit Toshiki Okadas "Vacuum Cleaner" eingeladen, einer Arbeit, die aus der Perspektive eines Staubsaugers erzählt wird ("Ich bin der Typ, der mehr auf unten achtet").

Die Nachbarn von der anderen Straßenseite - das Residenztheater - bereichern das Festival dazu mit der Dante-Pasolini-Verschränkung "Eine göttliche Komödie" in der Regie des Theatertreffen-Debütanten Antonio Latella. Kurzum, für einen Abgesang aufs Stadttheater ist es mal wieder zu früh, was auch die Einladung vom Schauspiel Leipzig ("Süßer Vogel Jugend", Regie: Claudia Bauer) sowie vom Hamburger Schauspielhaus (Katie Mitchells Inszenierung "Anatomie eines Suizids") belegen. Was man der Auswahl definitiv vorhalten muss: dass sie kaum Steilvorlagen für die journalistische Lieblingsdisziplin "Trend-Spotting" liefert.

Immerhin, mit der Max-Frisch-Bearbeitung "Der Mensch erscheint im Holozän" vom Zürcher Schauspielhaus kommt eine Arbeit, in der die Klimakrise irgendwie anklingt. Weil der Visionär Frisch ja schrieb: "Wenn das Eis der Arktis schmilzt, ist New York unter Wasser". Endlich, ein echtes Brennpunktthema! Da spiegelt sich ja auch ein bisschen Normalität.

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