zum Hauptinhalt
Ivo van Hove zeigt mit der Toneelgroep Amsterdam „De dingen die Voorgijgaan“.

© Christophe Raynaud de Lage / Han

Theaterfestival Avignon: Mohammed liebt Baschar

Das Theaterfestival von Avignon beeindruckt mit Familiendramen, queeren Lebensgeschichten und großen Zeitfragen – eine Zwischenbilanz.

Ein unentwegtes Klicken mehrerer Uhren erklingt im Hof des Sankt-Josephs- Gymnasiums, wo das Festival d’Avignon gerne große Theaterproduktionen in strenger, rechteckiger Anordnung zeigt. Ivo van Hoves mit der Amsterdamer Toneelgroup erarbeitete Familiengeschichte „De dingen die voorbijgaan“ können die Ohren über weite Strecken besser erahnen als die Augen. Sie ist, nach dem bilderwütigen Festivalstart mit „Tyestes“, wo eine gruselige Episode aus der Mordfamilie der Atriden erzählt wurde, der stille, intensive Kontrapunkt: Auch eine Familientragödie, aber eine moderne, unterdrückte, verdrängte, die fürs große Bildwerk nicht taugt.

In trüben schwarzen Kostümen sitzen die Familienangehörigen zunächst wie im Wartezimmer auf zwei Stuhlreihen, die die Bühne flankieren. Wer immer fürs Spielen einer Szene in die Mitte muss, der tritt ein in den namenlosen Schmerz. Alle verbindet ein unheimliches und das Leben vergiftende Geheimnis: Das Leben der Großmutter und ein sechzig Jahre zurück liegender Mord aus Liebe, der alles künftige Begehren und Wünschen, alles Wollen und Streben vernichtet. Die kollektive Psychoanalyse auf der Grundlage des Textes von Louis Couperus ist einer der Höhepunkte der zweiten Festivalwoche in Avignon.

Shahemans Inszenierung ist die große Entdeckung des Festivals

Der iranische Autor und Regisseur Gurshad Shaheman, der als Zwölfjähriger nach Frankreich geflohen war, stützt sich für sein Stück „Il pourra toujours dire que c’est pour l’amour du prophète“ auf Berichte von Flüchtlingen aus der LGBT- Community. 18 reglose Körper lagern im Dämmerlicht auf dem Boden, liegend, kauernd, sitzend. Geschlossene Augen oder Blicke in die Leere. Dann kehrt das Leben langsam in einen dieser Körper zurück und mit ihm die Erinnerungen: Wie die Muslimbrüder eine Razzia gegen ihn und weitere Homosexuelle organisierten, erzählt einer, wie er gefoltert wurde, wie die tolerante Großmutter ihn vor dem Ehrenmord durch seine Familienangehörigen rettete. Ein anderer berichtet, wie ein syrischer Jugendlicher an einer Straßensperre aus einem Bus geholt und vergewaltigt wird, weil er nicht genug Bestechungsgeld bei sich hat.

In den Schrecken mischen sich Liebesgeschichten, z.B. die Erinnerungen an die Liebe zwischen zwei jungen Männern: Mohammed und Baschar, der sich den Namen des Freundes auf die Haut tätowieren lässt. In einem grässlich homophoben Umfeld kann er so immerhin noch behaupten, er trage das Tattoo aus Liebe zum Propheten auf seiner Haut. Auf diese List spielt der lange Titel an. In einem faszinierenden akustischen Geflecht mischen sich private Erfahrungen mit den Schreckensbildern der Kriege im Nahen Osten. Wenn ein Bericht dem Ende entgegengeht, dann wird das Mikro des betreffenden Akteurs (14 von ihnen sind Absolventen einer Schauspielschule, vier sind Geflüchtete) leicht abgeblendet und eine neue Erzählung legt sich über die vorausgegangene: Private Geschichte und Weltgeschichte überlagern sich in permanenter Durchdringung. Shaheman öffnet einen Erfahrungsraum jenseits der von Medienbildern verzerrten Vorstellung von Menschen im Bürgerkrieg. Seine Inszenierung ist ein Oratorium, optisch äußerst sparsam und ganz der Imagination des Zuschauers vertrauend. Diese große Entdeckung beim Festival in Avignon ist ein Ausbund an Behutsamkeit im Lärmen der Gegenwart.

Auch die große Politik kommt in Avignon vor

Behutsamkeit ist auch das Stichwort für eine weitere Arbeit, mit der das Festival in diesem Jahr seinen Fokus auf Erfahrungswelten von Menschen aus den diversen queeren Zusammenhängen lenken will. „Trans (Més Enllà)“ des Didier Ruiz stellt sieben Transsexuelle auf eine nur mit einem Rundvorhang abgeteilte Bühne und lässt sie zunächst aus ihrer Kindheit und Jugend erzählen. Das ist ein Theater der Bekenntnisse und Anekdoten aus der Genese ihrer Geschlechtsangleichung. Was Frau- und Mannsein bedeutet und mit welch subtilen und unbewussten Gesten Geschlechtszugehörigkeit behauptet wird, erfährt man nirgends genauer, als aus diesen Lebensgeschichten.

Aber auch die große Politik gibt es in diesem Avignon-Programm. An den großen griechischen Klassiker Aischylos angelehnt ist Olivier Pys neue Arbeit „Pur Présent“. Auf einer etwa boxringgroßen Podestbühne hat Festivaldirektor, Autor und Regisseur Olivier Py drei kurze, eigene Stücke eingerichtet. Angestoßen durch die Erfahrungen, die er als Übersetzer sämtlicher überlieferter Aischylos-Stücke gemacht hatte, fragt sich Py in der ihm eigenen Unbescheidenheit, wie wohl Aischylos über unsere Gegenwart und die Gefahr der Aushöhlung unserer Demokratien schreiben würde. Die kleine Trilogie „Pur Présent“ will also in der Tradition antiker Tragödientugenden verstanden sein, ein politischer Anspruch, dem Py allerdings nicht gerecht wird.

Vorführung diverser Formen von Diskriminierung

Er lässt in plakativen Parabeln argumentative Zweikämpfe ausführen: Im Gefängnis spricht der inhaftierte Drogenboss aus der Unterschicht mit einem von Schuldgefühlen gepeinigten Kaplan, dem Sohn eines megalomanischen Bankers, der eine Kryptowährung erfunden und die Welt in den Ruin getrieben hatte. Wie er dies praktiziert und dabei einen Politiker seinem Willen unterwirft, erzählt der zweite Teil. Das dritte der kurzen Stücke fragt, welche Formen von Widerstand überhaupt noch denkbar sind. Pys Metaphern wollen die großen Themen der Gegenwart fassen: den Wirklichkeitsverlust, die Unterwerfung unter das Diktat des Geldes, und jetzt der digitalen Entscheider, der Computer, Zahlen und Algorithmen. Große Zeitfragen, zentrale Rätsel, aber ein mit Straßentheatercharme und simpelster Figurenlogik aufpolterndes Theater.

Einen klugen Reflexionsraum hat hingegen David Bobée im Vorhof zur Bibliothek Ceccano eingerichtet, die Zuschauer bei freiem Eintritt in einem großen Aufführungszyklus diverse Formen von Diskriminierung vorführt. „Mesdames, Messieurs et le Reste du Monde“ präsentiert als Lesung klug montierte Texte. In der siebten Folge sprach die Filmdiva Béatrice Dalle in mitreißendem Furor Texte von lesbischen und transsexuellen Autorinnen. Und zwar am Nationalfeiertag. Avignon war da wieder einmal ganz die moralische Speerspitze der Grande Nation.

Eberhard Spreng

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false