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Wilde Kreatur. Florian Rummel und Alessa Kordeck in der Inszenierung von Robert Neumann.Foto: dpa

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Theater: Wenn der Wolf kommt

Das Grips-Theater zeigt die toll inszenierte aber symbolisch höchstproblematische Tierparabel „Die besseren Wälder“.

Es muss ein wahres Schlaraffenland sein, zu dem die Wolfsfamilie da aufbricht. „Ungezählt sind die Schafe auf den Weiden und die Wildschweine so fett, wir können uns kaum daran satt essen“, macht der Vater seinen Lieben den Mund wässrig. Nur leider werden sowohl er als auch die Mutter unterwegs erschossen. Der kleine Wolfsjunge, der als Waise übrig bleibt, schafft es zwar bis in die neue Heimat, wo tatsächlich Schafe zuhauf grasen. Allerdings frisst er keins davon auf. Sondern wird im Gegenteil von einem gemischtwolligen Paar mit unerfülltem Kinderwunsch adoptiert. Die weiße Frauke und der schwarze Wanja ziehen Söhnchen Ferdinand wie ihresgleichen auf, als Wolf im Schafspelz. Klar bricht aus dem Knaben gelegentlich noch die Natur hervor, wenn er zum Beispiel ein Geburtstagsgeschenk knurrend mit den Zähnen aufreißt. Aber davon abgesehen wächst er in der umzäunten Gemeinschaft zum vorbildlichen Weidenbürger heran, der brav die großväterliche Doktrin verinnerlicht: „Schafe sind treu und feige, auf uns kann man eine Kirche bauen.“ Und dort singt niemand schöner das „Schafe Maria“ als Ferdinand, der Wolf, der dem Lamm Gottes huldigt.

„Die besseren Wälder“ ist ein Stück von Martin Baltscheit, das sich als „komödiantische Parabel“ versteht. Robert Neumann hat die Geschichte vom eingemeindeten Außenseiter am Grips Klosterstraße zur Uraufführung gebracht, und seiner Inszenierung kann man nur Respekt zollen. Der Schauspieler hat ja schon mit „Big Deal?“ bewiesen, dass er Regietalent besitzt. Hier vertraut er auf einfachste, sichtbar gemachte Theatermittel: Die Bühne von Max Julian Otto ist nahezu leer, die fünf Spieler – die außer dem energetischen Florian Rummel als Ferdinand alle mehrere Rollen übernehmen – schlüpfen nur flugs in Schafspullover oder Wolfsmantel. Requisiten werden umstandslos vom Rand geholt. Und wer gerade nicht in der Szene ist, sitzt neben dem Spielfeld und sorgt zum Beispiel übers Mikrofon für Schneesturmatmosphäre. Ein Zugriff mit Tempo und dem Charme der Tiere.

Überhaupt: Als Entwicklungsgeschichte funktioniert Baltscheits Stück erst mal nicht schlecht. Es hat viel Sprachwitz und schöne poetische Einfälle, etwa das Ammenmärchen von den Schafsbabys, die als Schneeflöckchen vom Himmel fallen. Woran Held Ferdinand freilich auch nicht lange glaubt. Der kommt in die Pubertät, freundet sich mit dem derb-frivolen Beck an (klasse: Ensembleneuzugang Paul Jumin Hoffmann) und verliebt sich in Schaf Melanie (mitreißend: Jennifer Breitrück). Die spornt ihn an, mit ihr gemeinsam den Sprung über den Zaun der Gated Community zu wagen und das Softiedogma seiner überbesorgten Schafseltern (Alessa Kordeck und René Schubert) zu vergessen. So landen die Jungverliebten tatsächlich im Rotlichtbezirk des unbehüteten Lebens, wo Bier und Tanz und Spaß warten. Und, klar, Gefahren lauern. Ferdie wird durch die Begegnung mit einer hungrigen Wölfin, die ihn als falsches Schaf erkennt, in die Identitätskrise gestürzt. Und Melanie überlebt den Ausflug nicht. Man findet sie getötet – genauer: gerissen – auf der Weide. Des Mordes verdächtigt und verhaftet wird Ferdinand.

Tja. Wären die beiden wohl besser folgsam zu Hause geblieben. Oder nicht? Hier wird’s schon schwierig mit der Moral. Das Stück ist toll gespielt, toll umgesetzt. Aber sobald man anfängt, die Symbolik des Autors zu durchleuchten, beginnen auch die Probleme.

„Die besseren Wälder“ wurde 2010 mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis ausgezeichnet, die Jury sprach von „vielschichtigen Deutungsmöglichkeiten“. Und befand, man könne den Text auch „als brandaktuellen Kommentar zur Debatte um Zuwanderung und Integration in Deutschland und Europa lesen“. Lieber nicht! Identität und Natur sind soziale Konstrukte, schon klar. Aber wie soll man das Stück beim Wort nehmen? Vielleicht so: Wir müssen uns vor Einwanderern nicht fürchten, auch wenn sie als Wölfe im Schafspelz kommen, schließlich können sie ihre Blutgier durch Erziehung unterdrücken lernen und bessere Vegetarier werden als wir selbst? Vielschichtige Deutungsmöglichkeiten.

Mit Ferdinand nimmt es kein gutes Ende. Er versucht sich einem Wolfsrudel anzuschließen, wird aber auch dort ausgestoßen. Seinesgleichen gibt es nicht. Schlussendlich zieht er mit zwei Typen übers Land, deren Asylantrag abgelehnt wurde: Ein Bär, der sich für eine Biene hält, und eine Gans, die glaubt, sie sei ein Fuchs. Autor Baltscheits Bilanz dazu lautet: „Es kommt nicht darauf an, wo du herkommst, es kommt darauf an, wo du hingehst und mit wem.“ Mehr von dieser Klarheit hätte nicht geschadet.

Klosterstr. 68, wieder am 24.4., 18 Uhr.

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