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Theater: Wenn der Muezzin verstummt

Über den Dächern Kairos: Das Hebbel am Ufer zeigt ein Doku-Drama mit ägyptischen Gebetsrufern.

Mohamed Ali Mahmoud Farag sieht man an, dass er einmal zu den besten Gewichthebern Ägyptens zählte. Er hat Schultern, so breit wie eine Tür, sein Gang ist kraftvoll, nicht ohne Eleganz. In seinem dunkelblauen Anzug wirkt er wie ein Bodyguard. Seine wahre Berufung aber zeigt sich nicht auf den ersten Blick. Allah hat diesen sanften Riesen mit einer ebenso samtweichen wie voluminösen Stimme ausgestattet: Mohamed Ali Mahmoud Farag ist ein religiöser Sänger von Graden und Gnaden – Vizeweltweltmeister im Koranrezitieren. Eine Berühmtheit in der islamischen Welt. Freitags, in einer der großen Moscheen Kairos, lässt der 30-Jährige vor zehntausend Gläubigen sein mächtiges, einschmeichelndes Organ anschwellen.

Der Alltag seines Kollegen Hussein Gouda Badawi gestaltet sich anders. Der blinde Muezzin und Koranlehrer fährt jeden Morgen zwei Stunden mit dem Bus zu seiner Moschee; ein hartes Leben. Mansour Abd El Salam Mansour arbeitet nachts als Bäcker, um über die Runden zu kommen. Auch er ist Muezzin, wie Abd El Moati, ein pensionierter Elektriker, der beinahe einmal, wie er gern erzählt, bei einem Kurzschluss getötet worden wäre. Die Rufer in der Stadtwüste gehören einem vom Aussterben bedrohten Berufsstand an: Das ägyptische Ministerium für religiöse Angelegenheiten will den Ritus zentralisieren. In Zukunft sollen auf elektronischem Weg nur noch wenige Auserwählte zur Gebetsstunde ihre Stimme erheben. Männer wie Mohamed Ali Mahmoud Farag, der Star-Muezzin.

Die Welt öffnet und verschließt sich gleichzeitig

Biografien aus Kairo, dem 18-Millionen-Moloch mit seinen 30 000 Moscheen. Stefan Kaegi, Regisseur aus der Schweiz und Mitbegründer der weltweit operierenden Performancetruppe „Rimini Protokoll“, hat sie für sein Doku-Theater regelrecht gecastet, den Blinden, den Bäcker, den Elektriker und den Ex-Gewichtheber. Wie Brüder stehen sie auf der Bühne nebeneinander. Sie singen Koranverse, blättern in Erinnerungen – an Baustellen in reichen arabischen Ländern, wo sie einmal gearbeitet haben, an den Kriegsdienst. „Radio Muezzin“, so nennt Kaegi sein Stück, eine szenische Recherche, die nach der Premiere in Kairo nun in Berlin zu sehen ist, im Hebbel am Ufer. Festivalauftritte in Frankreich, Schweiz und Österreich sind geplant.

Aber was heißt hier Stück, was heißt Premiere? Der globalisierte Kulturbetrieb hat die manchmal fatale Neigung, alles zu nivellieren und noch die schwierigste Unternehmung als selbstverständlich hinzunehmen. Brillante Köpfe, künstlerische Expeditionsleiter wie Stefan Kaegi und seine Rimini-Kollegen sind an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Es gibt nichts, was sich nicht in bewährte experimentelle Formen bringen ließe. „All the world’s a stage“, das berühmte Shakespeare-Wort, wird in jedwede Wirklichkeit heruntergeholt. Reality-Theater als Antidotum gegen den allgemein grassierenden Realitätsverlust. „Rimini-Protokoll“ hat mit Politikern, Ärzten, Toreros, brasilianischen Polizisten und indischen Callcenter-Mitarbeitern Reality-Shows veranstaltet. Im April sondieren sie die Daimler-Hauptversammlung im Berliner ICC: Für Zuschauer werden Aktien gekauft, als Eintrittskarte zur großen Finanz- und Wirtschaftsshow. Rimini arbeitet nach dem Fernsehprinzip, ohne Massenpublikum. Annäherung bringt Entzauberung. Die Welt öffnet sich, die Welt verschließt sich, nicht selten geschieht das gleichzeitig. Wie bei „Radio Muezzin“.

Keine Schauspieler, sondern Laien

Ursprünglich wollte Kaegi für sein vom Goethe-Institut Kairo, der Kulturstiftung des Bundes und Pro Helvetia unterstütztes Projekt mit Taxifahrern arbeiten. Taxifahren in Kairo ist ein fantastisches Erlebnis; als würde sich ein gigantischer Schrottplatz in Zeitlupe durch viel zu enge Straßen wälzen. Das ewige Hupkonzert, die erhebende Kakophonie der Muezzins, das ist der Sound von Kairo. Korankassetten von Mohamed Ali Mahmoud Farag sollen bei den ägyptischen Taxifahrern sehr beliebt sein. Es gibt da mystisch-praktische Verbindungen, aber natürlich war es ungleich schwieriger, Muezzins für ein Theaterprojekt eines westlichen Regisseurs zu gewinnen.

Es grenzt an ein Wunder. Möglich war es nur mit ministerieller Genehmigung oder Duldung. Um die Auslandstournee nicht zu gefährden, beließ es das Produktionsteam im Dezember bei einer geschlossenen Aufführung im El Sawy Culturewheel, das sich auf der Insel Zamalek unter einer Stadtautobahnbrücke verbirgt. Es gibt in Kairo zahllose Theaterhäuser, aber kaum Ensembles und sowieso kein Geld. „Radio Muezzin“ bleibt in Kairo stumm, kann dort vorerst nicht gezeigt werden, eine bittere Erfahrung. In Berlin übrigens ist der laute Gebetsruf aus der Moschee verboten.

Rimini-Stücke sind technisch hochkomplizierte, multimediale Versuchsanordnungen, sie folgen einem einmal festgelegten Text, auch diesmal. Es stehen keine Schauspieler auf der Bühne, sondern Laien. Und das trifft hier im doppelten Sinn zu. Für einen Muezzin gibt es keine vorgeschriebene Ausbildung. Bilal, ein Sklave aus Äthiopien, wurde einst vom Propheten Mohamed wegen seiner wohlklingenden und kräftigen Stimme zum ersten Muezzin gemacht.

Kaegi hört zu

Vergangene Romantik. Die Männer Gottes steigen nicht mehr auf das Minarett, es gibt Mikrofone und Lautsprecher, meist primitive Anlagen, das ist Teil des religiös-politschen und urbanen Problems. So wie der Muezzin auch nur ein kleines Rädchen in einem mächtigen Getriebe ist. Türschließer, Putzmann, Hausmeister, eine Art Küster oder Glöckner. Aber auch die christlichen Glocken werden schon lange automatisch geläutet.

Das spektakulär Unspektakuläre ist charakteristisch für die Rimini-Sondierungen der globalen Arbeitswelten. Kaegi tut im Grunde das, was man großen Theaterregisseuren auch nachsagt: Er hört zu. Er nimmt an, was man ihm anbietet. Als richte er für diese Muezzins eine Abschiedsvorstellung aus. Sie lebt von den menschlichen Augenblicken, von der anrührenden Situationskomik. Die meisten Kairoer Muezzins sind Staatsangestellte, mit bescheidenem Lohn. Sie halten sich zurück, wenn sie nach ihrer Zukunft gefragt werden. Einer sagt es: dass er nichts sagen könne. Ein anderer bangt um seinen Platz im Paradies; nach einer alten Auffassung bekommt dort ein Muezzin so viel Platz, wie weit seine Stimme zu Lebzeiten gereicht hat.

Ihre Stimmen haben jetzt ein Gesicht

Sie werden nicht mehr gebraucht, wenn der Plan der Regierung durchkommt und der Adhan, der Gebetsruf, standardisiert wird. Ausländer, die in Kairo leben, begrüßen das Vorhaben. Man würde von einer erheblichen Lärmbelästigung befreit. Fundamental-religiöse Gruppierungen fühlen sich bevormundet, wenn es zur Gleichschaltung der Muezzins kommt. Offenbar geht es der Regierung um Kontrolle; Unbefugte sollen nicht mehr Zugang zum Lautsprecher auf dem Minarett haben.

Es ist ein fünfter Mann im Raum, ein Radioingenieur. Er bastelt an seinen Apparaten herum und erklärt, wie die Übertragung der Gebetsrufe funktionieren soll. Und dann stellt er einen großen Lautsprecher auf die Bühne, in diese Theaterkopie einer Moschee, die der Vizeweltmeister im Koranrezitieren soeben verlassen hat. Ein melancholisches Schlussbild: Die drei Muezzins und die Schüssel, aus der die wunderschöne Stimme von Mohamed Ali Mahmoud Farag dringt.

Was immer aber geschieht, eines wird man diesen drei von Arbeitsverlust und Bedeutunglosigkeit bedrohten Muezzins nicht nehmen können: Ihre Stimmen haben jetzt ein Gesicht. Man spürt ihren Stolz. Man sieht, wie sie die ungewohnte Präsenz genießen. Wie die Verführungskraft des Theaters zu wirken beginnt.

„Radio Muezzin“, HAU 2, 3. bis 9. März. Info: www.hebbel-am-ufer.de

Rüdiger Schaper

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