zum Hauptinhalt
Gemeinsam in der Scheisse. Mira Tscherne und Jakob Kraze spielen die Hauptrollen mit Bravour.

© Christian Brachwitz

Theater über sozialen Abstieg: Alles schrumpft, außer der Berg unbezahlter Rechnungen

„Wutschweiger“ im Theater an der Parkaue erzählt von der Jugend in Armut. Das Stück ist so witzig und direkt, dass keine falsche Sentimentalität aufkommt.

„Sich schämen, bringt nichts“, findet Sammy. Womit das Mädchen recht hat. Trotzdem: leichter gesagt als beherzigt. Vor allem, wenn überall Gelegenheiten zum Rotwerden lauern. Wenn zum Beispiel die Eltern nicht zu der Sorte gehören, mit der man angeben kann, also zu dieser Mama-leitet-einen-internationalen-Konzern- oder Papa-fährt-ein-drei-Millionen-teures-Auto-Kategorie. Sondern arme Schlucker sind.

Sammys Vater hat als Postbote gearbeitet und jeden Tag tausend Briefe in tausend Briefkästen gesteckt, ist aber gefeuert worden, weil er zu langsam war. Seitdem trinkt er gerne mal ein Bier und danach noch eins und viele weitere. Dass die Mutter verstorben ist und ihre Asche im Meer verstreut wurde, macht die Sache nicht besser.

Auch Ebeneser, der neu in Sammys Klasse kommt, steht nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Er hat zu Hause einen rätselhaften, aber unaufhaltsamen Schrumpfungsprozess miterlebt. Alles wurde immer kleiner, erst die Mayonnaise-Tuben, dann die Wohnung, schließlich die Eltern.

Der Vater sitzt jetzt als Däumling im Blumentopf, die Mutter huscht in Mausgröße über den Teppich. Zumindest kommt es Ebeneser so vor. Gigantisch angewachsen sind dagegen die Stapel mit den Rechnungen. Tja. „Willkommen im Klub“, sagt Sammy nur. Welcher Klub? Na, der „Ich sitze in der Scheiße“-Klub.

Als dessen einzige Mitglieder in der Klasse halten die beiden zusammen. Auch, als alle anderen zur Skiwoche aufbrechen. Sammy und Ebeneser beschließen, in den Redestreik zu treten.

Aufstand gegen das Kleingehaltenwerden

Das preisgekrönte Stück „Wutschweiger“ der flämischen Autoren Jan Sobrie und Raven Ruëll erzählt also eine todtraurige Geschichte. Das allerdings so witzig, direkt und lebensnah, dass keine Sentimentalitäten aufkommen.

Im Theater an der Parkaue hat sich jetzt Regisseurin Alice Bogaerts der Geschichte vom sozialen Abstieg angenommen. Ursprünglich war ihre Inszenierung fürs Spiel im Klassenzimmer konzipiert, aber auch auf der Bühne 3 des Lichtenberger Hauses funktioniert dieser Aufstand gegen das Kleingehalten- und Ausgegrenztwerden.

[Nächste Vorstellungen: 28. + 29. 10., weitere im November.]

Was nicht zuletzt an den Spielern liegt. Mira Tscherne gibt eine bemerkenswert selbstbewusste Sammy, die sich selbst als Schwätzerin und tic-tac-süchtig beschreibt und Sätze raushaut wie „Es ist nicht schön, wenn man zur Tafel gehen muss. Aber lecker“. Dass Tscherne dabei der Stückvorgabe überhaupt nicht entspricht – nach der das Mädchen dick und der beste Torwart an der Schule ist –, dafür kann sie ja nichts.

Auch in puncto Körpernorm könnten so einige Bühnen mal ihre Ensemblepolitik hinterfragen. Und Jakob Kraze ist toll als Ebeneser, dieser eigentlich introvertierte, vom Schrumpfen der Eltern ziemlich mitgenommene Junge, der aber dank Sammys mitreißender Freundschaft nicht im Schneckenhaus verschwindet. Es stimmt schon. Sich schämen, bringt nichts.

Zur Startseite