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Zertrümmerte Gedenkkultur. Ini Dill und Paul Maximilian Boche im Stück der Polin Malgorzata Sikorska-Miszczuk.

© Dramatische Republik 2020

Theater im Haus der Statistik: Zeitreise mit Autoscooter

Endlich wieder Theater, zumindest im Innenhof: „Der Koffer“ im Haus der Statistik.

„Allesandersplatz“ leuchtet es in großen weißen Lettern vom Haus der Statistik in Mitte, und passender könnte die Einstimmung auf diesen Abend absolut nicht sein. Schließlich leben wir jetzt in der Alles-anders-Welt, mit der wir uns wohl oder übel arrangieren müssen. Und dazu gehört auch, dass Theaterabende unter die gleichen Abstands- und Hygieneregeln fallen wir der Friseurbesuch. Willkommen in den Zeiten der Distanzkultur.

Es fühlt sich schon seltsam an, überhaupt wieder eine leibhaftige Premiere zu sehen – nach Monaten, in denen neue Produktionen, wenn überhaupt, nur auf Streamingplattformen über die Bühne gehen konnten. In denen Schauspielerinnen und Schauspieler sich in ihren heimischen Küchen und Wohnzimmern zunehmend verzweifelt mit Gedichtbänden und Gitarrenmusik gegen das Vergessenwerden stemmten. Jetzt aber findet an der Karl-Marx-Allee tatsächlich mal wieder Theater ohne Trennscheibe statt.

Im Hof steht ein ausgedienter Autoscooter

Im Innenhof des Hauses der Statistik, das ja als Modellprojekt entwickelt wird und Verwaltungsetagen ebenso schaffen soll wie Wohnungen und Raum für allerlei soziale und kulturelle Unternehmungen, steht schon seit längerem ein ausgedienter Autoscooter.

Vor Corona konnte man hier unter anderem Tango tanzen. Inmitten der Pandemie wird die ehemalige Amüsier-Rummsbahn zum Schauplatz für ein Stück, das unsere Erinnerungskultur hinterfragt und nach Heilungsmöglichkeiten für persönliche Traumata forscht.

Es heißt „Der Koffer“ und stammt von der polnischen Autorin Malgorzata Sikorska-Miszczuk. Hinter der Inszenierung ihres Textes steht die „Dramatische Republik“, ein Zusammenschluss von theaterschaffenden Profis und Amateuren mit Faible für zeitgenössische Dramatik, Regie führt Rolf Kemnitzer, der mit seiner Gruppe „Aktion Direkt“ zuvor „Das Wunder vom Wedding“ im TAK aufgeführt hat.

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Den „Koffer“ setzt er nun ins krisensichere Setting, aus Publikumssicht jedenfalls. Platzanweiser laufen mit Gasmaske herum, Plastikstühle stehen gebührend vereinzelt auf der Autoscooter-Bahn, und der Wind pfeift an diesem Juni-Abend so scharf durch den Hof, dass alle Aerosole bestimmt gleich weggepustet werden. Ein Erzähler im goldglitzernden Anzug (Paul Maximilian Boche) umkurvt eingangs im alten Golf das Areal, bevor er mit seiner Partnerin Jaklin (Ini Dill) teils bedenklich auf Tuchfühlung geht und den Boden bereitet für eine Geschichte, die mit bittersüßer Ironie an Wunderglauben und rührt.

[Haus der Statistik, Innenhof, Otto-Braun-Straße 70-72, wieder am 13. und 20. Juni, 20 Uhr]

Sie handelt vom Franzosen Fransoua Jako (Daniel Blum), den es eines Tages ins „Museum der Vernichtung“ zieht. Hier, wo an den Holocaust erinnert werden soll, trifft er auf eine reichlich desillusionierte Museumswärterin (Susanne Voyé), die ihren Job nicht mehr aushält, weil die Memorabilien sie in den Wahnsinn treiben. Hier entdeckt Fransoua – welch unglaubliche Fügung – den Koffer seines von den Nazis ermordeten Vaters, Leo Pantofelnik, dessen Schicksal bis dato eine schmerzhaft klaffende Leerstelle in seinem Leben war.

So etwas ist auch im Pariser Shoa-Museum geschehen

Einen ähnlichen Fall hat es tatsächlich gegeben. Im Pariser Shoa-Museum sah sich ein Mann namens Michel Lévi-Leleu vor einigen Jahren unversehens mit dem Koffer seines Vaters Pierre-Lévi konfrontiert. Das Erinnerungsstück in der Vitrine war eine Leihgabe der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, auf wenige Monate befristet, zur Rückgabe gedacht. Woran sich für den Sohn nicht zuletzt die Frage entzündete, ob es auszuhalten wäre, dass der Koffer seines Vaters ein zweites Mal die Reise von Frankreich ins Konzentrationslager antreten müsste.

Hinter die beklemmende Wucht dieses Dilemmas fällt Sikorska-Miszczuks Stück dann doch zurück. Sicher, sie legt einen Finger in offene Wunden, wenn sie ein Gedenken zur Disposition stellt, das „den Kriegsschmutz“ konserviert und damit konsumierbar macht, aber vom „Nachkriegsschmutz“ nichts wissen will, das mit seiner trügerischen Aufarbeitungsgewissheit blind macht für die „Ruinen der europäischen Zivilisation“, in denen wir eigentlich leben. Ihre Museumswärterin lässt sie einmal sagen, der Bischof habe schon Recht, „um zu vergeben, müssen wir vergessen“. Ein Satz, der sowohl in Deutschland, als auch in Polen seinen ganz eigenen Schrecken entfaltet.

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Aber durch seine angestrengt wirkende Bauweise, durch einen Rahmen mit Entertainer-Erzähler und Stimmen auf dem Anrufbeantworter, geht dem Stück viel Unmittelbarkeit verloren. Und ob die Katharsis tatsächlich darin liegt, das Loslassen zu üben, „die Toten sterben zu lassen“, wie es Sikorska-Miszczuk im Email-Austausch mit dem Regisseur anregt, der im Programmheft abgedruckt ist – das darf man ja durchaus befragen.

Rolf Kemnitzer jedenfalls bemüht sich, seinem Abend die maximale ironische Distanz einzuziehen, um fragwürdigen Lesarten vorzubeugen. Sein Ensemble steht durchweg in Präsentatoren-Pose neben dem Text (wenn die Schauspieler nicht gerade munter auf dem Fangnetz unter der Autoscooter-Decke herumklettern), was dem Abend das Flair einer Stückemarkt-Lesung verleiht.

Das Publikum hüllt sich in Decken, der Wind trägt gelegentlich Polizeisirenengeheul oder das Boombox-Gestampfe einer Gruppe abstandsresistenter Techno-Kids herüber, und nach 70 Minuten endet der Abend mit höflichem Applaus. Es hat wieder Geht-so-Theater stattgefunden. Alles ist eben doch nicht anders.

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