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Theater: Fahrendes Volk in tollkühnen Bussen

Am Wochenende ging in Berlin die 24-Stunden-Abschiedstour von HAU-Chef Matthias Lilienthal zum ersten Mal über die Bühne, mit neun Theaterstationen in der ganzen Stadt, frei nach David Foster Wallace' Roman "Unendlicher Spaß".

Tegel und Tempelhof haben schon eine Menge gemeinsam. Jetzt auch noch den Nachnamen. Offiziell heißt TXL ja „Otto Lilienthal“, nach dem Berliner Flugpionier. Und für ein paar Wochen ist der bereits stillgelegte innerstädtische Airport THF in der Hand von Vielflieger Matthias Lilienthal. Seine Künstler zeigen auf dem Flugfeld ihre ironische Weltausstellung „The World is not Fair“. Heimatkunde aus globalisierter Sicht. Die rot-weiß gestrichenen Pavillons laden mit Film, Performance, Installationen von unterschiedlicher Qualität zum Verweilen ein und zu ausgiebigen Radtouren. Zu Fuß ist der Parcours kaum zu bewältigen.

Nach neun Jahren feiert Lilienthal, der Intendant des Hebbel am Ufer, seinen Abschied, wie andere Einstand feiern. Noch einmal greift das HAU in die Stadt aus, will überwältigen. Die drei Buchstaben bleiben Chiffre für das größte und gelungenste Theater- und Kunstexperiment weithin. Der Airport HAU kennt kein Nachtflugverbot, es gibt viele Direktverbindungen mit den Theaterzentren der Welt. Das so schnell vergangene knappe Lilienthal-Jahrzehnt war nichts anderes als ein Festival in Permanenz, Bruchlandungen und Himmelstürmereien eingeschlossen. Wie bei BER, nur billiger.

Nun charakterisiert den 1959 in Berlin geborenen Impresario und Antreiber gleichermaßen seine Bodenständigkeit. Er hat Stadttheater gemacht, Hauptstadttheater, nach der Devise: Auch wir sind Exoten, um die Ecke wartet eine fremde Welt. Das ist der zweite Hieb des Matthias Lilienthal auf seiner Abhau-Tour: eine 24-stündige Reise im BVG-Doppeldecker durch West-Berlin, mit Halt an neun Stationen, vom Grunewald nach Neukölln, von Steglitz ins Märkische Viertel. Logistischer Wahnsinn, irre Geduldsprobe, Erkundung temporärer Kunst- und Spielorte, planvolles Erschlaffen und Wiederaufstehen, Anrollen und Abheben auf der Übersättigungsgrundlage des Romans „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace.

1600 Seiten negative Utopie, ein Buch wie ein Tsunami, das ganze wissenschaftliche und belletristische Bibliotheken hinwegspült und am Ende seinen Autor. 2008 beging David Foster Wallace Selbstmord. Was er über Drogen und Depressionen schreibt, liest sich so brillant wie monströs, das kann man nicht auf die Bühne bringen: die erhitzten Verschwörungstheorien, die Untergangsszenarien des nordamerikanischen Kontinents, den innerlichen wie äußerlichen Zeitlupenverfall einzelner Typen. Nur kurz: Kanadische Separatisten wollen einen Film von tödlicher Komik ins US-Fernsehen einspeisen, ein Unterhaltungsprodukt, das abhängig macht, den Konsumenten lähmt und das öffentliche Leben zerstört.

Man kann „Unendlicher Spaß“ vielleicht gar nicht lesen, jedenfalls nicht allein, und plötzlich kommt einem im Bus – es ist gegen neun Uhr abends, man ist seit einem halben Tag unterwegs – der Gedanke: Es geht nur so. Es lässt sich nur im kollektiven Erleben bewältigen. Wenn dieser ziegelsteinschwere Universalwitz selbstreferentiell ist, dann ist dieses DavidFoster-Wallace-Selbst in tausende Facetten zersplittert. Die Spieler von Gob Squad deuten das mit ihrer Performance vormittags beim Tennisclub LTTC RotWeiß an. Stunden später, wir sind im Institut für Mikrobiologie und Hygiene der FU am Hindenburgdamm gelandet, plaudert Übersetzer Ulrich Blumenbach über das 1996 erschienene Buch. Der Künstler Philipp Quesne hat das raumstationenartige Gebäude in ein David Foster Wallace Center umgewidmet. Wir erfahren über den genialischen Autor manches, nur von dem unendlichen Schmerz, der dahinter- steckt, hören wir wenig.

Dennoch: Die 24-Stunden-Tour wird zur Bildungsreise und „Infinite Jest“ zum Bildungsroman, mit 150 Spaßvögeln in zwei Doppeldeckern. Der Bus schaukelt am Bierpinsel, am Steglitzer Kreisel, am ICC vorüber, Lilienthals „Lieblingsbau“, und wieder blitzt ein Gedanke auf: Dieses West-Berlin war mit seiner Alien-Architektur so hochfahrend, wie Künstler immer sind, sein müssen. Der Satz von Le Corbusier – „Ich will mich im Hinblick auf die Architektur in die geistige Verfassung des Flugzeugerfinders versetzen“ – atmet diese dünne Luft. Dädalus, der erste Flieger, war auch Baumeister, Sohn Ikarus stürzte ab. Wenn die „Spaß“-Reise am Nachmittag auf dem Teufelsberg Station macht, sieht man das solitäre Corbusier-Haus beim Olympiastadion.

Wir stehen in den zerfetzten Riesenkugeln, die einst die amerikanischen Spionageanlagen beschirmten, ein verwunschener Ort, und wie erhaben! In einer dieser Murmeln des Kalten Kriegs hat der New Yorker Regisseur Richard Maxwell eine Dialogpassage aus dem Wallace-Thriller eingerichtet. Kaum zu verstehen, was die beiden Kerle, einer im Rollstuhl und eine dicke Transe mit Knarre, aushecken. Der starke Wind gibt ein Pauken-und-Trompeten-Konzert. Den Panoramablick über Berlin können sonst nur Sprayer genießen, die sich mit tollen Arbeiten in der Ruine der einstigen Schutzmacht verewigt haben.

Und weiter zum Haus des Rundfunks und zum Umlaufkanal des Instituts für Wasser- und Schifffahrtstechnik, unter dessen pinken Rohrausstülpungen sich die Terrorbrüder vom Teufelsberg wiedertreffen. Immer weiter in die Nacht, bis zum Morgen. Schon immer hat das HAU auf natürliche Drogen gesetzt: Erschöpfung, Schlafentzug. Bier gibt’s beim Endlos-Spaß erst spät am Abend.

Matthias Lilienthal hat einmal, das ist sein Markenzeichen, die Reihe „X Wohnungen“ entwickelt: eine Schnitzeljagd im Kiez mit Mikro-Performances in privatem Ambiente. Küche und Schlafzimmer als Bühne. Das ging durch Kreuzberg, Schöneberg, Neukölln, dann Warschau, Istanbul, demnächst New York und vielleicht Beirut. „Unendlicher Spaß“ nimmt die Idee im XXXL-Format auf, nur ist das Ganze jetzt noch viel größer als die Summe der Einzelteile. Der Weg ist das Spiel. Die Wege werden immer länger, und das Spiel ist diesmal seinen Regeln und Plätzen unterlegen. Da inzwischen alles in ein Format gepresst wird, muss man sich freuen: Dieses sprengt seine Formatierung.Rüdiger Schaper

Der erste kollektive Durchhänger kommt abends um sechs. Die Busreisegruppe, die zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Stationen und vier Aufführungen des 24-Stunden-Trips durch David Foster Wallaces Roman hinter sich hat, ist im Vivantes Klinikum Neukölln gelandet. Mit pittoresk angeschrammelten Polstermöbeln hat Anna Viebrock hier einen der wichtigsten Romanschauplätze illustriert: die Suchtklinik Ennet House, deren Insassen mit erbaulichen Lehrsätzen à la „Eile mit Weile“ wieder lebensmarktfit gemacht werden sollen. Und so, wie das suchtkranke Foster-Wallace-Personal da hinter einer riesigen Glasscheibe durch die Vivantes-Großküche mäandert und sich in Endlosgesprächen ergeht, scheint es seine Lektion tatsächlich schon ziemlich gut verinnerlicht zu haben. Der performative Effekt ist atemberaubend. Große Teile des wild zum Bleiben entschlossenen Publikums lassen sich auf Tischen und Sofas zu einem kleinen Minutenschlaf nieder.

Allerdings ist das kollektive Einnicken keine Schande, sondern, im Gegenteil, selbstverständlicher Programmbestandteil. Die Power-Napper im Vivantes Klinikum bilden in Stunde neun des Marathons lediglich die Avantgarde der Kurzzeitschläfer. Und dafür, dass in Lilienthals Kreuzberger Theaterkombinat seit jeher lebensnähere Regeln galten als am großen Rest der Anspruchsbühnen, haben wir es schließlich immer geliebt. Im Übrigen haben einen die Schauspieler bei Tourbeginn vorgewarnt. Im Fitnessraum des Grunewalder Tennisklubs, Schauplatz von Foster Wallaces Enfield Tennis Academy, lässt Regisseur Peter Kastenmüller die künftigen Eliten zwischen Beinmuskelmaschine und Fahrrad-Ergometer ein süffisantes „Ich bin ziemlich komplex“ in die Runde grinsen. „Weichei-Handtuchwerfer“, die hier vor der Zeit den „Warmduscher“-Abgang machten, würden sich in dieser Leistungsgesellschaft logischerweise selbst disqualifizieren.

Tatsächlich tut das HAU alles, dass es dazu nicht kommt. Keine erklärte Überforderung dürfte bis dato perfekter organisiert gewesen sein als dieser „Unendliche Spaß“. In gemütlichen Bussen wird man von Schauplatz zu Schauplatz gefahren, fast bis vor den Eingang. Macht sich der minimale Anflug eines Magenknurrens bemerkbar, findet man auf seinem Sitz garantiert ein Carepaket mit Apfel, Brötchen und Energy Drink vor. Kaum zeigt sich ein Wölkchen am Himmel, drückt einem ein HAU-Mitarbeiter Schirm und Regencape in die Hand. Für den gegenteiligen Wetter-Fall hat der Chef höchstpersönlich vorgesorgt. Hautempfindliche Naturen sollten sich für die Außenstationen bei ihm mit Sonnencreme versorgen, mahnt Lilienthal fürsorglich. Einer der handlungstragenden Roman-Konzerne dürfte nach dieser Tour Absatzschwierigkeiten haben: Große Teile der Story spielen – da hier Firmen das Recht erwerben können, Jahre nach ihren Produkten zu benennen – im „Jahr der Inkontinenzunterwäsche“. Bei der vorgefundenen Dixieklodichte droht hier definitiv die Insolvenz.

Die logistische Fitness, die der HAUApparat bei seinen Unternehmungen im Stadtraum von jeher an den Tag legte, wird im Finale noch einmal grandios getoppt. Es erstaunt vor allem zu Beginn, wie nahe die meisten Aufführungen am Romantext bleiben – jedenfalls gemessen daran, dass die HAU-Jahre als ultimativer Avantgarde-Push in die Theatergeschichte eingehen werden. Gob Squad, die auf dem Center Court die Matchgegner aufeinander loslassen, um verbale Kommunikationstricks und -fouls auf das Tennisregelwerk zu übertragen, bleiben mit ihrer Emanzipation von einer mehr oder weniger den Roman illustrierenden Formensprache zunächst recht allein. Erst im zweiten Teil des Marathons wird der „Unendliche Spaß“ wagemutiger. Chris Kondek lässt im Vivantes Klinikum Hans Löw und Felix Knopp in Hochgeschwindigkeit durch installativ hingebungsvoll versiffte Albträume rennen. Gegessen wird in der Klinik-Kantine, Kartoffel mit Quark oder pappige Nudeln.

Der absolute Höhepunkt wartet im Institut für Mikrobiologie, wo Übersetzer Blumenbach live per Video zugeschaltet wird, während das Publikum im Hörsaal Platz nimmt. Mit unendlicher Geduld beantwortet er so klug wie allürenfrei sämtliche Fragen, die das Publikum spontan stellt. Nein, er habe den Schriftsteller leider nie persönlich kennengelernt; doch, es habe sechs Jahre gedauert, das Mammutwerk zu übersetzen; und: Ja, den „Unendlichen Spaß“ in eine bewusst disparate 24-Stunden-Überforderung zu übersetzen, leuchte ihm absolut ein.

Neben dem hoch sympathischen Blumenbach ist und bleibt der zweite unangefochtene Star des großen HAU-Finales: die Stadt. Stets haben Lilienthal und sein tolles Team es uns erspart, dem naturgemäß zum Scheitern verurteilten Versuch beizuwohnen, die Wirklichkeit auf die Bühne zu transportieren. Stattdessen erklärten sie immer wieder die Stadt selbst zur Bühne. In diesem Sinne ist die Wallace-Wanderung, nach früheren Theaterausflügen in den Spreepark Ost oder auf vietnamesische Märkte in Lichtenberg, der logische Trip durch den einst utopischen Westen der sechziger und siebziger Jahre, wo Lilienthal aufgewachsen ist.

„Ich bin ziemlich komplex.“ Die Tour vom Steffi-Graf-Stadion, in dem einst große Tourniere stattfanden, bis zum Finanzamt Reinickendorf löst diese schöne Drohung in beispielloser Beiläufigkeit ein und legt sich zudem dramaturgisch wasserdicht über das Amerika der näheren Zukunft, wie Wallace es imaginiert hat. Das HAU ist zum Finale absolut bei sich geblieben. Es war ein Spaß, leider doch ein endlicher! Christine Wahl

Weitere Touren immer mittwochs und samstags, bis 27. Juni. Info: www.hebbel-am-ufer.de

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