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Albträume und Erinnerungen: Szene aus „Staub – Dust“

© Dana Ersing / Schaubude

„Theater der Dinge“-Festival: Reisen in die Vergangenheit

Das „Theater der Dinge“-Festival in der Schaubude Berlin zeigt 16 Produktionen, die sich mit Fundstücken und Archiven befassen.

Manchmal ist Erinnerung Detektivarbeit. Wie in diesem Fall: Der Künstler Tommy Laszlo ersteht in Brüssel, auf dem Flohmarkt am Place du Jeu de Balle, ein Fotoalbum. Der hochwertige Ledereinband, der perfekte Zustand hatten es ihm angetan, nun blättert er sich durch ein völlig fremdes Leben und bleibt an einem Urlaubsfoto hängen. Ein Strandpanorama mit Naziflagge. Das Album bebildert den Werdegang einer Deutschen namens Christa, von der Geburt bis ins Erwachsenenalter. Es zeigt Aufnahmen ihres Vaters in Luftwaffen-Uniform, ein Haus in Regensburg, Urlaub in Zinnowitz, eine Postkarte des Brüsseler Atomiums, schließlich den Ehemann Christas in einem Park. Wie ist dieses hochprivate Familienstück auf einen Wühltisch gelangt? Und wer waren oder sind diese Menschen? 

Laszlo und sein Partner Benoit Faivre begeben sich mit der Kamera auf eine Recherche-Reise in die Vergangenheit, die von Frankreich nach Deutschland und weiter nach Belgien führt. Angetrieben von Wissbegier, begleitet allerdings auch von der Frage, ob sie das Richtige tun. Ob man das Recht hat, einfach so in die Biografie eines anderen Menschen einzudringen.

Entstanden ist daraus die faszinierende Arbeit „Vies de papier – PapierLeben“, die anlässlich des internationalen Festivals „Theater der Dinge“ von der Schaubude nach Berlin eingeladen wurde, als eine von insgesamt 16 Produktionen. Tim Sandweg, der künstlerische Leiter des Figuren- und Objekttheaters an der Greifswalder Straße, hat sich zuletzt ja sehr für die Zukunft interessiert. Hat mit verschiedenen Reihen und Festivals den Spielarten der Digitalisierung in seinem Genre nachgespürt. Jetzt orientiert die Schaubude sich zurück, jedoch nicht im Sinne eines nostalgischen Backlashs.

Fokus auf dokumentarischen Arbeiten

„Verlorene Zeit“ ist das Motto dieser „Theater der Dinge“-Ausgabe. Versammelt sind Inszenierungen, die sich mit Hinterlassenschaften, Archiven, Sammlungen und Fundstücken befassen, die beleuchten, woraus Biografien und Identitäten konstruiert werden, wie Geschichte gemacht wird – und das ist ja ein sehr gegenwärtiges Thema.

Der Fokus liegt dabei auf dokumentarischen Arbeiten, die sich perspektivreich in die Historie graben. Der polnische Künstler Ludomir Franczak begibt sich in „Leben und Tod der Janina Wegrzynowska“ auf die Spuren einer Op-Art-Pionierin und Grafikerin, die mit ihren kaleidoskopartigen Mustern in etlichen Zeitschriften, sogar in der Werbung höchst präsent war, selbst aber in Vergessenheit geriet. Im Podewil, wo die Schaubude einen Teil des Festivals veranstaltet, versucht Franczak, sich ihr mit einer Live-Film-Performance und einem begehbaren Archiv zu nähern. Vom Führerschein bis zum Werktisch hat er alles zusammengetragen, was von Wegrzynowska zu finden war. Darunter auch Zitate, wie ihre angesichts der im Fernsehen ausgestrahlten Mondlandung formulierte Enttäuschung: „Es ist nun nicht mehr möglich, sich die Oberfläche des Mondes auszumalen. Ich fühle mich dieser Bilder und Träume beraubt“. Bis zum Schluss bleibt die Grafikerin die große Unbekannte - was bewusst ausgestellt wird.

Wie Eigenes und Fremdes zusammenhängen

Die Arbeit „Staub – Dust“ wiederum, für die sich die israelische Gruppe Golden Delicious mit Wilde & Vogel aus Deutschland zusammengeschlossen hat und deren Festival-Premiere noch ansteht, wird dem Erinnerungskomplex eine gänzlich andere Facette hinzufügen. Ausgangspunkt ist der Umstand, dass viele Nachfahren von Holocaust-Überlebenden in Albträumen die Erlebnisse ihrer Eltern und Großeltern „erinnern“.

Vies de papier/PapierLeben heißt das Stück von Tommy Laszlo und Benoit Lefaivre, das auf dem Flohmarktfund eines Fotoalbums basiert.
Vies de papier/PapierLeben heißt das Stück von Tommy Laszlo und Benoit Lefaivre, das auf dem Flohmarktfund eines Fotoalbums basiert.

© Thomas Faverjon/Schaubude

Wie Eigenes und Fremdes zusammenhängen, das ist eine wiederkehrende Frage bei diesem „Theater der Dinge“. In „Vies de Papier“ führt das Fotoalbum die Künstler auf die Spuren ihrer persönlichen Familiengeschichte. Die Genealogien überblenden sich und beglaubigen die alte Weisheit: „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart“.

Im Weinsalon an der Schreinerstraße, einem weiteren Spielort, hat die spanische Gruppe „El Solar. Agentur der Objektdetektive“ die Ergebnisse einer besonderen Spurensuche zusammengetragen: Artefakte und Tonaufnahmen von Menschen aus der ehemaligen DDR nämlich. Bücher, Geschirr mit Zwiebelmuster, Faltbeutel, Dederon-Schätzchen kommen in „Tagebuch zwischen den Zeilen“ wieder ans Licht. Dazu sind Zeitzeugen-Berichte zu hören: „Ein Idiot baut eine Mauer, der nächste Idiot macht sie wieder auf, dazwischen liegt mein Leben“. Dieser Trödelladen voll ideeller und persönlicher Werte hat die Anmutung eines Museums der Unschuld, schwelgt aber nie in Ostalgie. In den Worten eines von den Objektdetektiven aufgespürten Ladenbesitzers: „Erinnern bedeutet ja nicht verklären“.

Noch bis 15. November. www.schaubude.berlin

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