zum Hauptinhalt
Für seine Performance sammelte der Künstler Ei Arakawa verstrahltes Wasser in Fukushima und ließ es nach Norwegen bringen.

© Tomoo Arakawa

„The Ocean“ in der Bergen Kunsthall: Stadtentwicklung an der Nordsee

Axel J. Wieder gründete in Berlin die Buchhandlung Pro qm und leitet heute die Kunsthall Bergen. Ein Besuch.

Zwei Schiffe thronen in der Kunsthall Bergen. Ihre kleinen Rümpfe sind aus Holz und für die Vitrine gemacht, doch die Vorbilder fuhren oder fahren noch über die Meere. Durch jenes Wasser, das der Künstler Wolfgang Tillmans auf den Fotos hinter den detailreichen Modellen zeigt: graublaue Massen, wie sie auch Bergen im Schutz der Fjorde prägen.

In Berlin wäre Kunsthallen-Chef Axel J. Wieder wohl kaum auf die Idee einer Ausstellung zum Thema „The Ocean“ gekommen. In den hiesigen KW Institute for Contemporary Art organisierte er 2004 gemeinsam mit zwei anderen Kurator:innen „

Jetzt und zehn Jahre davor“ – eine umfassende Darstellung der „Verhältnisse von Kunstproduktion und Stadtentwicklung“, kurz Gentrifizierung am Beispiel des New Yorker East Village und Berlin-Mitte.

Und obwohl der 50-Jährige die Stadt 2007 erst einmal für das Künstlerhaus Stuttgart verlassen hat und dort drei Jahre lang als künstlerischer Direktor tätig war, steht die Schau für sein anhaltendes Interesse für solche urbanen „Aufwertungsprozesse“, die bald auch Norwegens zweitgrößte Stadt ereilen werden: Wenn 2028 Bergens mächtiger Fracht- und Containerhafen umzieht, entsteht hier ein neues Wohngebiet, das die Stadt um gut 25 Prozent wachsen lässt. Begehrlichkeiten sind also programmiert.

Dicke Kabel unter Wasser

Die Entwicklungen wiederholen sich, und Axel J. Wieder denkt schon mal darüber nach, was das für die Menschen hier bedeuten kann. Seit Jahrhunderten verbindet sich Bergens Bedeutung eng mit seiner geografische Lage.

Eine historische Hafenstadt an der Nordsee mit Fischerei, internationalem Handel und einer der zentralen Orte, an dem die Öl-Industrie und maritime Forschung aufeinander treffen. So ist „The Ocean“ auch bloß marginal eine Ausstellung, die das romantische Potenzial des Meeres erkundet.

Es offenbart sich in der fantastischen maritimen Landschaft von Takako Yamaguchi und vielleicht noch in der Sound-Installation „I sing of the sea, I am mermaid of the trees“ von Ayesha Hameed. Vordergründig jedenfalls, tatsächlich handelt die akustische Arbeit vom ersten Unterwasserkabel aus dem späten 19. Jahrhundert, das die Kommunikation zwischen Großbritannien und Indien revolutionierte. Zugunsten der Briten, die so ihre Kronkolonie besser unter Kontrolle bekam.

Visionen nachhaltiger Industrien

An das Thema der unsichtbaren Infrastrukturen knüpft auch Nina Canell mit ihren Kabelfragmenten an, die einen ins Innere dieser rätselhaft schönen Versorgungsadern mit ihren Metallkernen blicken lassen. Erklärung fordert eine Skulptur im Eingangsbereich der Kunsthalle:

Es handelt sich um die Rekonstruktion eines Salzkochers, einst typisches Requisit im Hafen, wo der Fisch nach dem Fang gleich gepökelt wurde. Flankiert wird der hölzerne Nachbau von einer umfangreichen Zeitung der Bergen School of Architecture (BAS), die das „oszillierende Vermächtnis der Beziehungen zum Meer“ der Provinz Vestland untersucht. Es geht um Ausbeutung und das Abwracken von Bohrplattformen, um Lachszucht und Visionen nachhaltiger Industrien.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Die Zeitung zum Mitnehmen, allein ihre Textlastigkeit, weist auf eine weitere tiefe Verbindung zwischen Wieder und Berlin hin. 1999 gründete er gemeinsam mit Katja Reichard und Jesco Fezer Pro qm als Buchhandlung zu Themen wie Politik, Pop, Ökonomiekritik, Architektur, Kunst und Theorie. Lange war sie einzigartig, ein Ort für die Diskurse zur Zeit.

Axel Wieder gründete die Buchhandlung Pro qm

Wieder, bereits in Stuttgart tätig, hielt seine Wohnung auch nach 2007 und arbeitete „aus Spaß weiterhin einmal im Monat samstags“ bei Pro qm. Aufgegeben hat er beides erst, nachdem er über New York zurück nach Berlin und von Großbritannien nach Stockholm an die Kunsthalle Index kam.

In Bergen leitet er die städtische Institution für zeitgenössische Kunst nun im dritten Jahr. Die Stelle sei ausgeschrieben gewesen, erzählt er. Und Wieder, der in Köln wie Berlin Kunst- und Kulturgeschichte studierte, hatte seine eigene Vision einer Kunsthalle, die sich erst nach dem Jahr 2000 gründlich internationalisierte.

Diese Arbeit hätten seine beiden Vorgänger:innen perfekt erledigt – er selbst empfand sogar, dass sich der Ort „durch die strategische Öffnung vielleicht ein bisschen vom lokalen Diskurs entfernt“ habe und wolle mit seinen Projekten wieder „in die Stadt hineinarbeiten“. Eine Buchhandlung gibt es natürlich auch, aber vor allem fällt auf, wie stark „The Ocean“ trotz ihres globalen Blickes an die Bergener adressiert.

Verstrahltes Wasser aus Fukushima

Dazu gehört, dass die beiden historischen Schiffsmodelle aus dem benachbarten Museum für Schifffahrt stammen. Oder dass ein nicht unwesentlicher Teil der Ausstellung im urbanen Raum stattfindet. Eine Audio-App des Kollektivs VUMA, die Orte der Kolonialgeschichte gegenwärtig macht, gehört ebenso dazu wie die Performance von Ei Arakawa zur Eröffnung.

Dafür stellte der japanisch-amerikanische Aktionskünstler verstrahltes Wasser aus Fukushima zur Verfügung und ließ es mitten in der Stadt durch ein System von Rinnen ins nahe Meer fließen.

[„The Ocean“, Kunsthall Bergen, Bergen. Bis 31. Oktober, anstelle eines Katalogs ist das kostenlose Magazin erschienen.]

Fast jedenfalls. Wenige Zentimeter vor der Vereinigung des radioaktiv verseuchten mit dem sicher anderweitig kontaminierten norwegischen Wassers wurde der feine Strom aufgefangen und das Wasser an den Ort zurückgetragen, von dem aus es losgeflossen war: einer Backsteinskulptur von Per Kirkeby.

Als der dänische Künstler „Bergen“ 1989 konstruierte, wird sie im Grünen gestanden haben. Heute ist der Ort von einem Parkplatz geprägt, Kirkebys reduzierte Architektur fungiert als Pissoir, drinnen steht ein stählerner Einkaufswagen. Aber vielleicht sorgt ihre kurzzeitige Reaktivierung für eine veränderte Wahrnehmung. „Bergen“ hätte es verdient.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false