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Nachstellungen einer Katastrophe. Szene aus Oliver Stones Film „World Trade Center“ (2006). Foto: picture alliance / kpa

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Terror im Film: Die Stürme der Wirklichkeit

Können Bilder das Trauma von 9/11 heilen? Wie die künstlichen Welten des Kinos mit dem realen Terror umgehen

Heute also. Der Tag. Der Jahrestag, zum ersten Mal rund. Um 14.46 Uhr unserer Zeit, um genau zu sein. Auf die Minute genau, mit der es anfing.

Zehn Jahre. Zehn Jahre? Oder eine erste ernsthafte Gelegenheit, in erneutem Gedenken Abstand zu proben? Seit Tagen, Wochen üben wir uns lesend, fernsehend, websurfend ein. Wissen wieder die Namen der Fluggesellschaften, der Flugnummern. Wissen, von wo die Flugzeuge aufstiegen und welche Ziele sie nie erreichten. Wissen die Minutenzahl vom ersten Einschlag in die Twin Towers bis zu ihrem Einsturz: hundertzwei. Wissen die Zahl der Toten an allen vier Ab- und Einsturzstellen: zweitausendneunhundertsiebzig.

Mit Zahlenwissen mag sich Erinnerung einfrieden lassen, mit bewegten Bildern kaum. Die Bilder von 9/11, die uns jetzt wieder überall umgeben, sind nicht etwa besser auszuhalten, weil wir sie kennen, nein, sie entfalten nahezu unverbrauchte Wucht. Der Schrecken, als das erste Flugzeug von Norden in den Nordturm einschlug. Die existenzielle Angst, als das zweite vom Süden her den Südturm traf. Das Entsetzen über die furchtbar grandiose Choreografie dieser menschengemachten Katastrophe. Der Feuerball um die Türme und die gefühlte Ewigkeit bis zu ihrem Untertauchen im Rauch.

Sie sahen und sehen aus wie Kinobilder, aber sie waren nur für die Furcht gemacht, nicht für Mitleid und erst recht nicht für die Katharsis. Bilder, wie sie das Kino, sonst durchaus zuständig für die Halluzination des Bösen, noch nie hervorgebracht hatte, wohl weil sie die Vorstellungskraft selbst des erfahrensten Filmfantasten überstiegen. Vier entführte Flugzeuge, zu Waffen verwandelt. Ein perfektes Timing. Perfide perfekte symbolische Ziele. So viel Böses kann der Mensch nicht erfinden, so viel Böses kann er nur tun.

Seither ist das Kino mit dieser Schmerzerfahrung nicht wesentlich anders umgegangen als seine Zuschauer überall auf der Welt: Es versuchte, sie zu bannen, zu verdrängen, zu umstellen, zu bewältigen – in dieser Reihenfolge. Es begann mit dem totalen Tabu, und manches davon gilt bis heute. Zwar hat Hollywood damals nur wenige Wochen lang auf Eis gelegt, was an die Ikonografie von 9/11 hätte erinnern können. Aber brennende Hochhäuser wie einst im „Flammenden Inferno“ (1974)? Oder gar einstürzende Türme? Unfilmbar. Und wenn New York noch nahezu ausgelöscht imaginiert werden darf, dann nur durch in ihrer Substanz moralische Naturgewalten – wie in Roland Emmerichs Science-Fiction-ÖkoDrama „The Day After Tomorrow“ (2004). Seine Aliens dagegen, die noch acht Jahre zuvor in „Independence Day“ das Empire State Building und das Weiße Haus zerstörten, sind irgendwie Lebewesen, also strukturell böse.

Am Anfang war Empfindlichkeit, und sie war enorm. Wer das Unfassbare kinematografisch zu verarbeiten suchte, beschwor nur wieder den Schock herauf. Und wagte sich zudem an das Thema lieber nicht allein. Die Kurzfilm-Kompilation „11'09''01“ von elf Regisseuren, 2002 in Venedig uraufgeführt, war ein Essay im Wortsinn, ein Denkstück, ein erster gemeinschaftlicher Bewältigungsversuch in Bildern. Bezeichnenderweise blieb der von Stimmengewirr grundierte Schwarzfilm des Alejandro González Iñarritu am stärksten im Gedächtnis. Und in „September“ (2003) verknüpfte Max Färberböck fünf von Schriftstellern durchaus sensibel erfundene Episoden – doch kaum jemand wollte sich dem ersten deutschen Versuch der Individualisierung des Schreckens aussetzen.

Zu früh das alles, immer noch zu früh. Und wer erinnert sich noch daran, dass Spike Lees „25 Stunden“ („25th Hour“), ebenfalls 2003 ins Kino gekommen, in erster Linie von einem New Yorker Drogenhändler handelte und seinem letzten Tag in Freiheit? Alles darin wurde von einer Dialogszene an einem Fenster überstrahlt, und der Blick aus diesem Fenster zog unmittelbar hinab in die Wunde von Ground Zero. Spike Lee wagte den Angriff der Realität auf die übrige Fiktion. Und wappnete sich, indem er seinem Film die Form eines bleiernen Albtraums gab. Vier Jahre später wirkte Mike Binders „Die Liebe in mir“ („Reign Over Me“), die Geschichte eines New Yorkers, der durch den Anschlag seine Familie und jeden Halt verlor, gegen diese erste große Trauerarbeit wie ein Zitat. Zudem trug er schwer an seiner Versöhnungsmission, während Spike Lee eine unerhörte Wahrhaftigkeit erwischt hatte.

Wie aber ernsthaft eine Opfererfahrung verarbeiten, wenn man selber gleich wieder zum Täter wird? Politisch ist das manchmal die einzige Lösung. Wenige Wochen nach dem 11. September begann Amerika den Krieg gegen die Taliban in Afghanistan und anderthalb Jahre später den Krieg gegen Saddam Husseins Irak. Allzu schnell verwandelte sich das gemeinsame patriotische Leid in das Leiden an einem Patriotismus, der nun selber Schuld auf sich lud, mit Kriegslügen, Lagern, Vergewaltigung, Folter, Mord an Zivilisten. Diese Kriege produzierten – in der Realität wie im Kino – neue Bilder, die sich vor die der brennenden Türme schoben. Zugleich waren es alte Bilder, weil sie an all das erinnerten, was man „Kriegsgräuel“ nennt, vom Zweiten Weltkrieg bis Vietnam. Endlich war die seit dem 11. September geschockte Welt wieder im vertrauten Bösen angekommen, und das Amerika des George W. Bush spielte darin eine Hauptrolle.

Mit 9/11 sind die zahllosen Irakkriegsfilme, mit denen eine neue Bewältigungsarbeit anhob, oft nur durch ihre historische Kausalität verbunden. Aber ganz verwischt sich der Zusammenhang nie, auch wenn das Opfertrauma, umgeben vom Ruch des kinematografischen Tabus, nun durch vielfache Varianten des Tätertraumas ersetzt wurde. Ob Doku, Dokudrama oder Fiktion, das Kino beschäftigte sich unter anderem mit der Kriegslüge (Michael Moores Cannes-Sieger von 2004, „Fahrenheit 9/11“), mit Guantánamo (Michael Winterbottoms „The Road to Guantánamo“, 2006), mit Abu Ghraib (Errol Morris’ „S.O.P.“, 2007) und immer wieder mit der Verrohung der Soldaten auch abseits von Folterlagern. Brian de Palmas „Redacted“ (2007) rekonstruierte minutiös die Auslöschung einer irakischen Familie, und in Paul Haggis’ „In the Valley of Elah“ (2007) stürzt das Heldenbild ein, das ein Vietnamveteran sich von seinem im Irak kämpfenden Sohn gemacht hatte – und mit ihm der mühsam gehütete eigene Patriotismus.

Mitten in diesem notwendig selbstquälerischen Verarbeitungsfuror der BushÄra entstanden dann doch zwei eindeutige 9/11-Filme, und es sind in ihrer lupenreinen Bezüglichkeit die einzigen geblieben. Heute mag man sie, weil sie 2006 ins Kino kamen, zynisch als Fünfjahres-Jubiläumsfilme lesen; vor allem aber trösteten sie die durch einen sinnlosen Krieg gebeutelte Nation. Nur im Kino und im Rückgriff auf den übergroßen Schrecken ließ sich noch jener „gute“ Patriotismus mobilisieren, der am Anfang der Vergeltung stand. Zugleich waren beide Filme eben wegen dieser Instrumentalisierung sofort umstritten: Paul Greengrass’ „Flug 93“ („United 93“) und Oliver Stones „World Trade Center“.

Stone behauptete überall, seine auf Fakten beruhende Geschichte zweier in den Trümmern der Türme eingeschlossener Polizisten sei nicht politisch. Aber der von Michael Shannon gespielte Ex-Marine, der sie in einer selbst ausgerufenen Antiterror-Mission rettet und alsdann in den Irakkrieg zieht, ist ein Kriegsheld reinsten Wassers – und folglich wurde „WTC“ zu Recht weltweit als Durchhaltefilm für die Heimatfront verstanden. „United 93“ dagegen, gedreht wie eine dokumentarische Re-Inszenierung, versteht sich als Denkmal für die rebellierenden Insassen jenes entführten Flugzeugs, das ins Capitol gelenkt werden sollte und dann nahe Pittsburgh zerschellte. Das Ergebnis aber ist ein Einpeitscherfilm, der das nationale Trauma nur ausbeutet, um jedwede Gegenwehr gegen den Terrorismus zu glorifizieren.

In „United 93“ läuft das Kino wohl am verzweifeltsten Sturm dagegen, dass die Realität ihm an jenem Tag vor genau zehn Jahren den Rang ablief. Ihm blieb und bleibt nichts, als die im Weltgedächtnis übermächtig eingebrannten Bilder mit eigenen Bildern zu umstellen, der Exorzismus selber geht fehl. Womöglich wird demnächst „Kill Bin Laden“ von Kathryn Bigelow hierfür den historischen Schlusspunkt setzen. Schon ihr nationales Versöhnungsstück „The Hurt Locker“, das einen psychisch zwar vom Krieg zerrütteten, aber tapferen Minenräumer feiert, wurde letztes Jahr mit dem Oscar-Sieg belohnt. Spannend, großartig zwar, und doch nur ein Mittel zum – guten – politischen Zweck. Wie nahezu alle Filme, die den uneinholbaren Horrorbildern des 11. Septembers zu trotzen suchen.

Und wenn das Kino gerade wegen dieser ikonografischen Vergegenwärtigungsnähe das am wenigsten geeignete Bewältigungs- und Heilmittel sein sollte? Wenn man stattdessen, sofern Sublimierung hier überhaupt etwas ausrichtet, besser auf die bildende Kunst setzt oder auf die Literatur? Jonathan Safran Foers Roman „Extrem laut und unglaublich nah“ verbindet alle drei Medien hintersinnig miteinander – und spielt an seinem Ende Daumenkino mit dem wohl am tiefsten verdrängten Schreckensbild jenes Tages. Auf 15 Seiten stürzt kein Körper an den 110 Stockwerken des World Trade Centers hinab, sondern fliegt an der Fassade himmelwärts. Und das Trauma verwandelt sich, für den Zauber einer Sekunde, in den Traum, alles, alles wäre nicht geschehen.

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