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Lackschuh statt Springerstiefel. Teodor Currentzis in der Berliner Philharmonie.

© Stephan Rabold

Teodor Currentzis und die Philharmoniker: Der Radikalinski

Er lässt die Klassikwelt fiebern: Dirigent Teodor Currentzis debütiert bei den Berliner Philharmonikern mit Verdis Totenmesse.

Selten wurde einem Debüt bei den Berliner Philharmonikern so entgegengefiebert wie dem von Teodor Currentzis. Kein Dirigent versetzt die Klassikwelt in ähnliche Aufregung wie der 1972 in Athen geborene Wahl-Russe. Weit im kalten Osten, erst in Nowosibirsk und dann in Perm, hat er ein verschworenes Ensemble um sich geschart und mit ihm geprobt, als gebe es die Welt draußen gar nicht mehr.

Von dort ist er gekommen, um den halbtoten CD-Markt aufzurütteln und hüftsteife Festivals in Pilgerstätten zu verwandeln. Currentzis umweht die Aura eines kompromisslosen Lebens für die Kunst, die seine Anhänger verzaubert, während sich seine Kritiker am mitunter exzentrischen Auftreten reiben und den Dirigenten am liebsten als Scharlatan entlarven wollen.

Doch Currentzis, der im Sommer nach acht Jahren seine Zelte in Perm abgebrochen hat, um sein Musicaeterna Orchestra samt Choir als privat finanzierte Ensembles durchzubringen, ist alles andere als ein Taschenspieler. Stets konnte man bei ihm genau beobachten, wie es geht: In Perm waren alle Proben zugänglich, zu jeder Tages- und Nachtzeit. In Stuttgart, wo Currentzis seit vergangener Saison das frisch fusionierte SWR Symphonieorchester leitet, hat er versucht, ähnliche Einblicke in sein Musizieren zu gewähren, mit Laboratorien rund um die Orchesterprogramme und Nachtgesprächen im Radio.

Das Orchester, obwohl unter Zwang vereint, zeigt sich begeistert von der intensiven Arbeitsatmosphäre und erntet stürmischen Beifall auf Tourneen. Im Sommer konnte man in Salzburg eine geradezu beängstigend entschlossene Schostakowitsch-Interpretation erleben, im Februar kommt Currentzis mit dem SWR Symphonieorchester dann auch in die Philharmonie.

Nun stehen die Philharmoniker nicht im Verdacht, sich ihre Gastdirigenten unter Marketing-Gesichtspunkten auszusuchen. Das Phänomen Currentzis haben sie mit Bedacht zunächst eingekreist. Zwei Mal war er als Leiter seiner Ensembles eingeladen, beide Besuche beschworen eine ganz eigene Konzertsituation, die mit eingezogenem Licht und Musikern in Kutten an eine Messe erinnerte. Da mag es folgerichtig erscheinen, zum Philharmoniker-Einstand Verdis Requiem auszusuchen, auch wenn Enttäuschungen programmiert sind.

Als Hausmacht hat er den Musicaeterna Choir mitgebracht

Die Philharmonie erstrahlt in vollem Filmlicht, die Philharmoniker tragen ihre gewöhnliche Dienstkleidung, und im Stehen musizieren sie auch nicht, wie es für Currentzis’ Musicaeterna Orchestra üblich ist. Am konventionellen Setting kann der Debütant, der diesmal Lackschuhe statt Springerstiefel trägt, nichts drehen. Aber er hat eine Hausmacht an seiner Seite, denn sein großartiger Musicaeterna Choir ist mit ihm gereist, der, ebenso wie die Solisten, mit Currentzis und Verdi bereits auf Tour war.

Alles hängt nun davon ab, welche Funken er aus der Begegnung mit den Philharmonikern zu schlagen vermag. Dass es dabei um das Ausloten von Extremen gehen würde, überrascht nicht. Und doch wird dieses Nichts, aus dem Verdis Totenmesse anhebt, dieser Raum erfüllter Stille, so weit geöffnet, dass die Konzerthuster den Sieg davontragen.

Kein Glanz, nur ein Hauch Vergänglichkeit entweicht den Streichern, das flüsternde Einsetzen des Chors ist unmittelbar berührend. Etwas Fragendes wächst in einer plötzlich ganz modern klingenden Sprache heran, die an Ives’ „The Unanswered Question“ oder gar Ligeti erinnert.

Das Verschwinden aller musikalischen Bindungen schockiert

Dieses Staunen wird allzu schnell in enge Grenzen verwiesen, wenn die Musik im „Dies Irae“ nichts als gleißenden Schmerz vermittelt. Das tremolierende Stürzen verkürzt sich bei Currentzis auf schlagende Geräusche, zwischen denen es schrillt, dass die Ohren klingeln. Das Verschwinden aller musikalischen Bindungen ist natürlich ein Schockmoment, in dem man instinktiv auf Erlösung hofft. Wenn es aber an Gegengewicht fehlt, nutzt sich jeder Horror ab.

Lichtblicke hat der Debütant für die Philharmoniker nicht vorgesehen, mit denen er keine inspirierende Ebene findet. Im Laufe des Abends tritt er immer näher zu seinem Chor heran, der unerhörter Beschwörungsformeln mächtig scheint. Neben ihm ist es Annalisa Stroppa, ohne Proben als Mezzosopran eingesprungen, die, überwältigt vom Tosen, für das weggeblasene Publikum die Stimme erhebt, tastend und tragend, unverzagt hoffend. Allem zum Trotz.

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