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Teodor Currentzis. Foto: Christian Charisius/dpa

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Teodor Currentzis in der Philharmonie: Das Wunder von Perm

Himmlisches Leben: Teodor Currentzis brilliert mit Mahler und den fulminanten Musikerinnen und Musikern des Orchester Musicaeterna.

Man fragt sich, wann dieser Mann Zeit zum Träumen findet. Teodor Currentzis hat zusätzlich zu seinem Opernhaus in Perm, seinem Orchester Musicaeterna und weltweiten Gastverpflichtungen gerade das SWR Symphonieorchester übernommen – einen der heikelsten Posten der Klassikwelt. Das durch die erzwungene Fusion der Klangkörper in Freiburg und Stuttgart entstandene Ensemble erhofft sich von seinem ersten Chefdirigenten alles: emotionale Aufbauarbeit, Identitätsfindung, gemeinsame Spielkultur, Vision. Currentzis hat die Herausforderung angenommen, obwohl seine Agenten Harakiri auf dem Roten Platz begehen wollten. Der Dirigent war längst ausgebucht, nun mussten Engagements wieder gelöst, Veranstalter vertröstet werden.

Doch Currentzis fühlte sich berufen – weil er weiß, wie man ein Orchester aufbaut. Mit Musicaeterna ist ihm ein vor Leben berstendes Kunstwerk gelungen, dessen Wurzeln vor 15 Jahren in Sibirien zu wachsen begannen. Sein Konzertmeister, der hingebungsvolle Afanasy Chupin, war damals 15 Jahre alt. In einer Art studentischem Kloster wurde Currentzis zum Lehrer dafür, Musik auch anders spielen, anders leben zu können. Für die Dokumentation „Die Sprache unserer Träume“ hat Regisseur Andreas Ammer Currentzis über acht Monate zwischen Perm und Stuttgart begleitet. Chupin berichtet darin, Currentzis habe seiner jungen Truppe vorausgesagt, dass sie eines Tages bei den Salzburger Festspielen auftreten würde. Im vergangenen Jahr war es so weit: Festivaleröffnung mit einer Mozart-Oper, dieses Jahr ein Beethoven-Sinfonien-Zyklus. Currentzis und sein Orchester sind im internationalen Scheinwerferlicht angekommen, werden bestaunt und bejubelt. Manche versuchen, dem hoch aufgeschossenen Dirigenten mit den Springerstiefeln Scharlatanerie nachzuweisen.

Currentzis wünscht sich, dass Mahler noch immer unbekannt wäre

Ob sich Currentzis insgeheim wünscht, noch unbekannt zu sein? Nicht von Kamerateams verfolgt zu werden, die einfangen wollen, wie durch Probenexzesse in einer alten sozialistischen Sporthalle am Rande des Urals Wunder geschehen können? Einen Wunsch spricht der Dirigent jedenfalls aus: dass Gustav Mahler noch immer ein Unbekannter wäre. Darin pflichten ihm jene Bewunderer des Komponisten bei, die offen darüber nachdenken, ob die Welt nur durch ein Mahler-Moratorium zu retten sei vor dem verquetscht Katastrophischen, dem sentimental Polierten, dem ungeniert Lärmenden. Currentzis dirigiert viel Mahler zurzeit, er hat mit einer umjubelten Dritten sein Amt beim SWR Symphonieorchester angetreten, eine hellsichtige Sechste mit Musicaeterna auf CD bei Sony veröffentlicht und gastiert mit einem Mahler-Programm in der Philharmonie.

Mit Liedern aus „Des Knaben Wunderhorn“ und der 4. Symphonie dringt er zum Kern von Mahlers Universum vor, der vor aller menschlichen Tragik und Groteske zunächst im Erkennen einer transzendentalen Schönheit liegt. Wer diesen Horizont scheut oder ihn hastig herunterspult, verpasst das Schlupfloch in eine faszinierende Welt. Currentzis geht Mahlers imaginären Volksliedton mit Zartheit und Mut zu weit schwingenden Bögen an. Das Orchester spielt oft am unteren Rand der Hörbarkeit, wo der Ton gerade noch trägt. Auch der Bariton Florian Boesch traut sich, wispernd eins zu werden mit diesem herangewehten Klang. Er nimmt im Verlauf der Lieder vom „Rheinlegendchen“ bis zu „Revelge“ immer mehr an Gestalt und Dramatik zu und durchmisst eine feine Dramaturgie der Weite, die sich blitzartig zu verdichten vermag.

Anna Lucia Richters Stimme blüht auf

In der Vierten, die die fulminanten Musikerinnen und Musiker im Stehen spielen, setzt Currentzis diesen Weg fort. Wie viele Stimmungen diese Partitur birgt, welche Zeitlosigkeit sie verströmt, wenn man sich Zeit mit ihr lässt! Anna Lucia Richter wusste in den „Wunderhorn“-Liedern zupackend Antwort auf die Naivität, die Mahler von Frauenstimmen einfordert, im Schlusssatz vom „Himmlischen Leben“ blüht sie mit großer Klarheit auf. Von hier aus könnte sich reuelos die Neunte anschließen, so hoch reicht der Mahler-Himmel in der Philharmonie, so dankbar weiß man sich staunend darunter. Und dann macht Currentzis, was überhaupt nicht geht nach diesem Abend: Er dirigiert mit „Tanzaggregat“ des serbischen Komponisten Marko Nikodijevic eine ekstatisch zuckende Zugabe, die wummert und schrillt. Manche Dinge muss man eben tun, um weiter eine Band bleiben zu können. Die Band, von der Gustav Mahler nur träumen konnte.

Die Sprache unserer Träume“ ist unter swrmediathek.de zu sehen.

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