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Matthew Bellamy von der britischen Band Muse beim Tempelhof Sounds Festival in Berlin.

© dpa/Britta Pedersen

Tempelhof Sounds Festival: Die Wut der Idles und das Pathos von Muse

Kurze Wege, genug Lautstärke: Vieles funktioniert gut beim Tempelhof Sounds. Am zweiten Tag war die Rockshow von Muse der Höhepunkt.

Rockfans sind arrogante Snobs. Das ist schon zu Beginn des zweiten Tages beim Tempelhof Sounds Festival zu spüren. Robbie Chater und Tony Di Blasi von der australischen Formation The Avalanches geben sich in der drückenden Mittagshitze alle Mühe das Publikum mit ihrem tanzbaren Samplesound mitzureißen.

Ihr Debütalbum „Since I Left You“ kompilierten sie aus 3500 Songschnipseln. Und so beschäftigen sich die Festivalzuschauer lieber mit munterem Referenzraten als der Aufforderung nachzukommen, die Hände in die Luft zu werfen.

Schroffe Riffs, kantige Drums, bellender Gesang

Euphorie kommt erst auf, als die vielgefeierte, britische Post-Punk-Band Idles am Nachmittag die Hauptbühne betritt. Die fünf Musiker sind die derzeit prominentesten, musikalischen Vertreter der Brexit-Generation. Wie schon die Show der Sleaford Mods, die tags zuvor auf dem Festival spielten, zwingen ihre Songs zum Blick in den zerbrochenen Spiegel des modernen Großbritanniens.

Über schroffe Riffs, kantige Drums und einen wuchtigen Bass bellt und grunzt Sänger Joe Talbot. Ein Kompendium intelligenter Slogans könnte man mit seinen Zeilen über soziale Ungleichheit, Sexismus und Rechtspopulismus füllen.

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Kurz hält er inne, widmet den Auftritt seiner Tochter, die ihre eigene Geburt nicht überlebte. Der Todestag ist ausgerechnet der 11. Juni. Wie wenig Idles mit maskulinistischen Rockposen anfangen können, spürt man, als Talbot fragt, welches fragile Ego denn darauf bestanden hätte, das Publikum durch einen Laufsteg zu teilen. Spoiler: Das dürften Muse gewesen sein.

Zum Abschluss der grandiosen Show bietet der bärtige Frontmann den Anwesenden eine kleine Twerking-Einlage, umtänzelt von Gitarrist Marc Bowen im wallenden Kleid. Die Befürchtung, dass der Festivalsound angesichts drohender Lärmbeschwerden nicht druckvoll genug sein könnte, ist spätestens nach diesem Konzert eindrucksvoll widerlegt.

Sänger Joe Talbot der britischen Band Idles beim Tempelhof-Sounds Festival.
Sänger Joe Talbot der britischen Band Idles beim Tempelhof-Sounds Festival.

© dpa/Britta Pedersen

Ohnehin funktioniert vieles auf dem Tempelhof Sounds ausgezeichnet. Kurze Wege und eine gute Organisation der Abläufe lassen das Publikum das beeindruckende Line-Up nahtlos genießen. Wollte man den Festivalmachern einen Vorwurf machen, dann jenen, dass der letzte Mut zu fehlen schien, um auf den arg abgehangenen Sound von Indiebands wie Maxïmo Park oder Two Door Cinema Club zu verzichten. Wenngleich die von vielen Kritikern bereits abgeschriebene Alternative-Folk-Band Alt J mit ihren Gesangsharmonien und wabernden Synthesizerklängen am frühen Abend durchaus zu verzücken weiß.

Als einziger weiblicher Act im Abendprogramm hat es die in Berlin lebende Schweizerin Sophie Hunger schwer, das Publikum mit ihrem überzeugenden Auftritt voller überraschender musikalischer Wendungen zu erreichen. Ein Großteil der Besucher strömt da bereits vor die Hauptbühne. Für viele dürfte die britische Band Muse der Höhepunkt des Programms sein.

Bellamy spielt den vollen Umfang seiner fast vier Oktaven umfassenden Stimme aus

Pünktlich um 20.30 Uhr brennt ein riesiges Anarchiesymbol über dem Tempelhofer Feld. Mit silbernen Masken betreten Sänger und Gitarrist Matthew Bellamy, Bassist Chris Wolstenholme und Schlagzeuger Dominic Howard die Bühne. Erst als „Hysteria“, ihr Hit vom Album „Absolution“, erklingt, reißen sie diese vom Gesicht.

Die untergehende Sonne durchleuchtet die gläserne Front des Flughafens von hinten. Die Wolken darüber saugen das Abendrot auf. Es dürfte keine besseren Kulisse für den Überwältigungssound von Muse geben als die über einen Kilometer lange Halle.

In beinahe fragwürdiger Präzession zelebriert das Trio Songs wie „Supermassive Black Hole“, „Plug In Baby“ oder „Uprising“. Vibrato, Arpeggio und Tonsprünge - Bellamy spielt den vollen Umfang seiner beinahe vier Oktaven umfassenden Stimme aus.

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Zwischen brachialem Geschredder und filigranen Tapping-Soli auf der Gitarre, wechselt er zeitweise zu kleinen Pianoeinlagen oder spielt mit seinen Fingern auf einem Instrument, das in seinem leuchtenden Anzug verbaut ist. Konfetti regnet herab. Im Hintergrund der Bühne wächst im Laufe der Show eine gigantische Gestalt heran, die ein bengalisches Feuer in der Hand hält.

Die zunehmend in Neonfarben getränkte Rockoper, ist zuweilen arg von den Allüren ihrer Protagonisten überlagert. Bellamy tänzelt über den Köpfen des Publikums auf seinem Laufsteg, unterstreicht den Revolutionspathos seiner Hymnen, indem er auf die Knie geht, die Fäuste gen Himmel ballt.

Im Gegensatz zu den Idles nimmt man dem millionenschweren Rockstar sein Klassenbewusstsein allerdings überhaupt nicht ab. Dann stimmt Bassist Wolstenholme auf einer Mundharmonika mit „Man With The Harmonica“ ein Tribut an Ennio Morricone an, dem im furiosen Finale der Song „Knights Of Cydonia“ folgt. Ein letztes Mal fliegen Bierbecher.

Um 22.06 Uhr übernehmen wieder die Lerchen mit ihrem wundervollen Gesang auf dem Tempelhofer Feld. Sie finden wenig Beachtung bei den Festivalgästen. Rockfans sind halt arrogante Snobs.

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