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Tanz der Finger. Die indische Performerin Anjal Chande präsentiert ihr Stück „This is how I feel“.

© Samir Mirza

„Tanztage Berlin“ in den Sophiensälen: Träume vom Tintenfisch

Unter Wasser und beim Kindergeburtstag: Bei den „Tanztagen Berlin“ in den Sophiensälen stellt sich der choreografische Nachwuchs vor.

Von Sandra Luzina

Es ist schon eine lieb gewordene Tradition: Die „Tanztage Berlin“ läuten das neue Tanzjahr ein. Bei diesem Low-Budget-Festival in den Sophiensälen stellt sich der choreografische Nachwuchs vor. Der Andrang ist wie immer groß, die Stimmung heiter: Neugier und die Lust auf Neues paart sich mit einem noch frischen Enthusiasmus.

Viele der Premieren beschäftigen sich mit der Wahrnehmung des eigenen und des fremden Körpers. Bei der Eröffnung geben die Frauen den Takt vor. Die Choreografin Annegret Schalke, die am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz in Berlin studiert hat, richtet in ihrem Solo „Sepia“ den Blick auf eine besondere Spezies: den Tintenfisch (Sepia officinalis). Bei Gefahr stößt er eine tintenähnliche Flüssigkeit aus, sodass der Feind nichts mehr sehen kann. Schalke verbindet in „Sepia“ nüchterne zoologische Beschreibungen und wissenschaftliche Thesen über die Unterschiede der Spezies mit persönlichen Erinnerungen und einfühlenden Tanzszenen, in denen sie sich selber als Unterwasserwesen imaginiert.

Die Metamorphose beginnt damit, dass sie in ein Blasinstrument mit großem Schalltrichter schlüpft, das an ein Sousaphon erinnert und tiefe Töne ausstößt. Mit einem rosa Plüschsack veranschaulicht sie den Tintensack des Weichtiers. Doch statt einer Tintenwolke sieht man nur weiße Kügelchen herausfallen. Später färbt sich eine Jalousie schwarz ein. Schalke, die auch als Lichtdesignerin arbeitet, kreiert hier ein subtiles Spiel aus Licht und Schatten.

Binäres Geschlechterdenken überwinden

Eine Kaskade von Fragen prasselt auf die Zuschauer ein: „Bist du ein Mann, eine Frau, eine Perle – oder ein Vampyroteuthis infernalis?“ Das binäre Geschlechterdenken haben die jungen Berliner Choreografinnen eh überwunden, doch Schalke hat es offenkundig besonders der Vampirtintenfisch angetan. Warum, erschließt sich freilich nicht in diesem Solo, das vor allem von den visuellen Ideen lebt. Doch nicht alles stimuliert die Imagination von Unterwasserwelten. Die Tanzszenen, die das Auflösen von Körpergrenzen thematisieren, sind nicht besonders originell. Das Gefühl, völlig schwerelos unter Wasser zu schweben, vermittelt sich am ehesten durch Jana Sotzkos Song „Floating in pieces“. Mit ihren Träumen von fluiden Identitäten geht Annegret Schalke aber schon mal baden.

An einen Kindergeburtstag erinnert zunächst „The Idea of Satisfaction“ von Nina Burkhardt. Auf der Bühne türmen sich glitzernde Geschenkkartons, flankiert von einem Popcorn-Behälter. Sechs blasierte Poser stehen in einer Reihe und halten einen Luftballon in der Hand. Eine Tänzerin in schwarzem Trainingsanzug verschlingt ein Eis am Stiel. Dann pusten alle in die Luftballons und inhalieren die Luft wieder. Die Wirkung ist so ähnlich wie bei Lachgas, denn alle brechen plötzlich in schrilles Gegacker aus. Was zählt, ist nur die sofortige Befriedigung. Alle stopfen gierig ungesundes Zeug in sich hinein, dazu werden angesagte Tanzstile wie das Twerken parodiert. Am Ende singt auch noch Lana del Rey. Auf satirische Weise nimmt Burkhardt die Überflussgesellschaft aufs Pop-Korn, die lauter Unersättliche produziert.

Die Tanztage zeigen noch bis zum 19. Januar die Arbeiten von jungen Choreografen. Wer dann noch immer nicht genug hat, kann sich bei der queeren Abschlussparty unter dem Motto „Get Fucked“ amüsieren. Wer allerdings annimmt, dass es sich hier um eine weitere Sexparty handelt, wird eines Besseren belehrt: „Get Fucked“ kann auch bedeuten, in einen veränderten oder erleuchteten Zustand aufzusteigen. Ach so! Vielleicht bekommen wir dann auch eine andere Vorstellung davon, was wahre Befriedigung bedeutet.

Sophiensäle: Tanztage Berlin bis 19.1.

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