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Icons auf der Bühne. Eine Szene aus "Atomos", Gastspiel der britischen Random Dance Company beim Wolfsburger Tanzfest Movimentos.

© Atomos Productions

Tanzfestival Movimentos: Denken mit dem Körper

Das Festival Movimentos in Wolfsburg verschafft der Tanzsaison besonderen Glanz. Zu den erwarteten Höhepunkten gehört die Inszenierung „Atomos“ von Wayne McGregor. Wir trafen den umtriebigen Choreografen vorab in London.

Von Sandra Luzina

Mit seiner schimmernden Fassade wirkt das Trinity Laban Conservatoire of Music and Dance wie eine Raumkapsel, die in einem heruntergekommenen Teil von Greenwich gelandet ist. Das Innere des von den Architekten Herzog & Meuron in einem Gewerbegebiet errichteten Tanzzentrums aber strahlt Leichtigkeit aus – passend zur feingliedrig androgynen Ausstrahlung des Choreografen Wayne McGregor, der hier sein neuestes Werk „Atomos“ einstudiert. „Mir gefällt die Idee, dass wir Atome sind, die durch Energie zusammengehalten werden", sagt er. Und fügt hinzu: „Energie geht niemals verloren.“

Tatsächlich ist „Atomos“ – einer der erwarteten Höhepunkte der 12. Movimentos-Festwochen, die heute in der Autostadt Wolfsburg beginnen – ein Werk von befremdlicher Schönheit, das den Zuschauer in eine hellwache Trance versetzt. Und wie die anderen Arbeiten für seine Company Random Dance ein grenzüberschreitendes Projekt, in dem sich Kunst und Wissenschaft verbünden.

Movimentos ist längst zu einer Marke geworden. Das von VW finanzierte Festival holt renommierte Choreografen aus aller Welt nach Wolfsburg. Und während bei den meisten Tanzfestivals die kleinformatigen Arbeiten überwiegen, zeigt Movimentos ausschließlich Werke für größere Ensembles. So ist es gelungen, ein breites Publikum für Tanz zu begeistern und auch die Tanzexperten anzulocken.

Mit Wayne McGregor kommt das Mastermind der britischen Tanzszene nach Wolfsburg. Schon 2009 sorgte er mit „Entity“ für Furore, einem Werk, das aus dem Dialog mit Hirnforschern hervorgegangen ist. Auch „Atomos“ spiegelt den rastlosen Forschergeist des 44-Jährigen, der vehement für Neugier und Offenheit plädiert. Ein Choreograf ist für ihn ein Denker des Physischen. Seit über zehn Jahren tauscht er sich mit Neurowissenschaftlern, Kognitionsforschern, Anthropologen und Soziologen aus – und setzt damit auf „völlig unterschiedliche Filter, die Welt zu betrachten“.

Die virtuosen Tänzer seiner Random Dance Company verfügen nicht nur über eine immense kinetische Intelligenz. Sie gehen auch mit einem wissenschaftlich unterfütterten Körperverständnis ans Werk. „Wir haben heute biometrische Geräte, die nicht nur die Herzfrequenz messen, sondern auch den Adrenalinstatus“, erklärt McGregor. „Wir haben Technologien, die untersuchen, was im Gehirn passiert, wenn man an Bewegung denkt. Das Innere und das Äußere, Gefühl und Intellekt, bilden für mich eine Ganzheit.“

Der Dialog mit den Wissenschaftlern hat den kreativen Prozess grundlegend verändert. „Ich habe gelernt, wie wir unsere kognitiven Gewohnheiten überwinden können. Es wäre fantastisch, wenn man das auch bei den Zuschauern anwenden könnte – und bei den Kritikern. So könnte man ihnen bewusst machen, dass sie bestimmte Sehgewohnheiten haben.“ Seinen Tänzern stellt er vertrackte Aufgaben. In „Ataxia“ (2009) etwa setzte er ihnen Prismen auf die Augen, um ihr Raumgefühl zu irritieren. Auch sonst experimentieren sie mit neuer Technik und speziell entwickelter Software. Vorstellungen, wonach Tänzer sich als Sinnenmenschen nur von Intuition leiten lassen, hält McGregor für romantischen Unsinn.

"Atomos", die kleinsten Teile der Materie.

„Atomos“ nun rückt die titelgebenden atomaren Strukturen in den Mittelpunkt. Als „atomos“ (Das Unteilbare) bezeichnete schon Demokrit die kleinsten Teile der Materie. Doch McGregor illustriert nicht bloß eine wissenschaftliche Theorie. Mit seinen Tänzern arbeitet er grundsätzlich ergebnisoffen. „Random Dance ist mein künstlerisches Labor“, sagt er. Diesmal wurden Verfahren erprobt, um den Körper und die Bewegung zu atomisieren. So wurden die Filmbilder aus „Blade Runner“ in 16 000 Pixel aufgelöst. Jeder der Tänzer wählte eine winzige Informationseinheit aus, die extrem vergrößert wurde, bis auf dem Bildschirm „die Kreatur“ erschien. „Diese Kreatur ist sehr seltsam“, erläutert McGregor. „Sie hat Glieder, aber ist kein Körper.“ Dabei verbindet ein eigens entwickeltes Computerprogramm – als intelligenter „choreografic agent“ – den Körper kinästhetisch mit dem digitalen Bild.

Auch die 3-D-Projektionen von Ravi Deprees zeigen entsprechend verfremdete Körperbilder. Die Choreografie basiert nicht nur auf Algorithmen, Wayne McGregor benutzt auch die biometrischen Daten der Tänzer. Die Adrenalinwerte zeigen, wie gestresst der Tänzer ist – das beeinflusst die Farbe der Kostüme. Und für den Soundtrack wurde eine Vangelis-Komposition zerlegt und zu einem neuen Sound zusammengefügt.

Das klingt wie pure Science-Fiction – und manchmal wirken die Tänzer mit ihren schlingernden, zerdehnten, zersprengten Bewegungen wie Replikanten. Die Tanzträume scheinen hier aus gänzlich neuem Stoff gemacht. Bei aller irritierender Vielgestaltigkeit aber sind auch deutlich Einflüsse des klassischen Balletts spürbar. Klein Zufall – schließlich ist Wayne McGregor seit 2006 auch „resident choreographer“ beim ehrwürdigen Royal Ballet – wobei er selbst keine klassische Ballettausbildung hat. Ob er da nicht wie ein Alien wirkt? „ Das bin ich immer noch!“, sagt er lachend. Ohnehin betätigt er sich auf verschiedensten Feldern. Er hat Opern inszeniert, hat Judi Dench trainiert, hat für Radiohead gearbeitet und war Set-Choreograf bei „Harry Potter und der Feuerkelch“.

Der Brite ist ein kühner Vordenker und Visionär. Doch entscheidend bleibt einstweilen auch für ihn das Performance-Erlebnis live. „Die Technologie reicht noch nicht heran an diese kollektive Erfahrung. In Echtzeit. Und mit realen Menschen.“

Die Festwochen in Wolfsburg dauern bis 1. Juni. "Atomos" läuft vom 15. bis 18. Mai.

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