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Absprung. Am 27. August präsentiert die Shuto Crew den Film „Urban Feminism“.

© Pao Paniq

Tanz im August: „Wir brauchen neue Formen des Zusammenseins“

Tanz im August-Chefin Virve Sutinen über Outdoor-Perfomances, Streaming und wie das Publikum trotzdem zu gewinnen ist.

Von Sandra Luzina

Frau Sutinen, das geplante Bühnenprogramm von „Tanz im August“ wurde Mitte Mai abgesagt. Hatten Sie bis dahin noch die Hoffnung, dass zumindest einige Aufführungen stattfinden können?
Nein. Wir haben im März die mehr als 20 eingeladenen Künstler angerufen, um zu hören, wie die Situation in ihren Ländern ist. Da haben wir begriffen, dass es unmöglich sein wird, sie nach Berlin zu holen. Die asiatischen Choreografen zum Beispiel hatten alle schon früh ihre Gastspielreisen abgesagt. Wir waren erst mal am Boden zerstört. Aber es war klar, dass wir nach alternativen Wegen suchen wollen, um die Künstler und das Publikum zusammenzubringen.

Sie präsentieren nun eine Special Edition von „Tanz im August“. Haben Sie das Programm mit den Choreografen entwickelt?
In einer zweiten Telefon-Runde haben wir allen Künstlern mitgeteilt, dass das Festival in gewohnter Form nicht stattfinden kann. Das war sehr emotional! Manchmal haben wir zusammen Tränen vergossen. Wir haben dann den Choreografen mitgeteilt, dass wir ihnen ein Ausfallhonorar zahlen können. Und haben sie aufgefordert: Wenn Ihr etwas machen wollt trotz der Einschränkungen – lasst es uns wissen.

Es war also eine Einladung an die Künstler, Vorschläge für alternative Formate zu machen. Dadurch sind Ihnen und Ihrem Team neue Aufgaben erwachsen!
Wir sind eigentlich keine Produzenten – diesmal aber schon. Das war mit viel Arbeit verbunden, wir sind eine kleine Organisation. Aber die Zusammenarbeit mit den Künstlern war sehr bereichernd. Außerdem tragen wir eine gewisse Verantwortung, da wir über eine stabile Struktur verfügen.

Haben die Förderrichtlinien überhaupt das Produzieren zugelassen?
Wir haben viel Unterstützung von der Kulturverwaltung und dem Hauptstadtkulturfonds bekommen. Es erlaubte uns, unsere Arbeit weiterzuführen und Aufträge für die Special Edition zu vergeben. Die meisten Beiträge wurden speziell für „Tanz im August“ produziert.

Warum zeigen Sie Online-Formate, aber keine Streamings von Performances?
Die Live-Performances sind das größte Kapital unserer Künstler. Es wäre nicht fair, sie für alle frei zugänglich zu streamen. Danach heißt es: Wir haben die Produktion schon gesehen – wo ist die neue Arbeit? Viele der Arbeiten waren auch noch gar nicht fertig. Außerdem finde ich, dass Streaming ein schlechter Ersatz für das Live-Ereignis ist.

Die Berliner Theater waren bis zum 31. Juli geschlossen. Wäre es nicht möglich gewesen, die eine oder andere Live-Aufführung in einem Theater zu zeigen?
Viele Künstler haben uns bereits im März mitgeteilt, dass sie ihre Arbeiten nicht fertig bekommen. Und die meisten Produktionen wären unter den coronabedingten Auflagen nicht aufführbar gewesen, ohne in das Bühnengeschehen einzugreifen. Außerdem brauchen unsere Partnerinstitutionen in der Stadt und auch das Hebbel am Ufer noch Zeit, um für die neuen Hygienebestimmungen gerüstet zu sein.

Es war zudem nicht abzusehen, welche Künstler wann und wie sicher reisen könnten. Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Ich bin da auf einer Linie mit den Regierungschefinnen, für die der Schutz der Bevölkerung an erster Stelle steht. Unser Festival wendet sich an alle – nicht nur an eine kleine Gruppe wagemutiger Aktivisten, die alle Theater sofort wieder öffnen wollen. Ich werde bald 60 – ich sehe die Dinge anders als junge Kuratoren, die glauben, dass sie ewig leben.

Festivalchefin Virve Sutinen.
Festivalchefin Virve Sutinen.

© Dajana Lothert

Haben Sie sich mit anderen Veranstaltern und Kuratoren ausgetauscht über die Herausforderungen, vor denen der Sektor steht?
Wir gehören einem Netzwerk europäischer Tanzfestivals an und haben uns regelmäßig ausgetauscht, etwa über die Reaktionen der Politik auf die Corona-Krise. Das war hilfreich. Seit März wurden enorme Anstrengungen in diesem Sektor unternommen, um zu überleben. Wir denken auch darüber nach: Wie wird die internationale Zusammenarbeit in den Performing Arts in der Zukunft aussehen? Müssen wir unsere Praktiken verändern? So entstand die Idee zur digitalen Konferenz, die wir mit dem Theater Spektakel Zürich veranstalten.

Wenn nun die eigenen Praktiken auf den Prüfstand kommen: Was sollte sich denn Ihrer Meinung nach ändern?
Ich hoffe, dass dieser neue Zusammenhalt weiter anhält und es weniger Konkurrenz und mehr Zusammenarbeit geben wird. Das bedeutet auch, etablierte Praktiken zu überwinden: etwas Neues zuzulassen und respektvolle Formen des Austauschs zu entwickeln. Wir arbeiten diesmal mit dem Grec Festival in Barcelona und dem Zürcher Theater Spektakel zusammen. Durch diese Kollaboration wollen wir die Künstler unterstützten.

Wir wollen auch unsere Praktiken überdenken, wenn es um das internationale Touring geht. Es stellt sich die Frage: Sollen die Künstler mit ihren Arbeiten oder Konzepten touren? Wenn die Konzepte touren, können lokale Performer die Stücke aufführen. Wir brauchen neue Lösungen. Unser ohnehin unterfinanzierter Sektor wird weiter verarmen durch die Corona-Krise.

Für die Reihe „Meet the Artist“ wurden digitale Formate entwickelt. Es gibt Gespräche mit den Choreografen geben, und die Künstler geben Einblick in den kreativen Prozess geben. In welcher Form?
Ayelin Parolin hat den 10-Minuten-Film „After ,WEG’. Memories of a Creation“ produziert. Sie blickt zurück auf den Probenprozess. Der Film ist eine Hommage an ihre Tänzer. Faye Driscoll hat eine Audio-Choreografie erarbeitet, die man sich zu Hause anhören kann. Sie nimmt uns mit auf eine Reise durch ihre künstlerische Welt.

Der nigerianisch-amerikanische Künstler Jaamil Olawale Kosoko präsentiert „American Chameleon: The Living Installments (2.0)“. Wie ist dieses Multimedia-Kunstwerk entstanden?
Seine Performance „Chameleon: A Biomythography“ sollte im April in New York Premiere feiern, kurz nach dem Lockdown. Kosoko hat dann sein Material gesichtet – Videos, Gedichte, Live-Performance – und stattdessen ein Online-Format entwickelt. Er hat neue Filmsequenzen für Berlin gedreht und einen virtuellen Begegnungsraum für Schwarze, Queere Stimmen geschaffen. Um das Format im vollen Umfang zu erleben, muss man sich bei einer Gaming App anmelden oder kann es im Livestream verfolgen und wird durch ein Programm mit Healing Session, Lecture, Filmen und Gesprächen geführt.

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Ist das Stück durch die „Black-Lives-Matter“-Bewegung beeinflusst?
Es geht ihm um Fragen der schwarzen Identität und das Überwinden von Traumata. Aber auch darum, einen Weg zu finden, der in die Zukunft führt.

Es werden auch zwei Outdoor-Performances gezeigt – ohne Beteiligung von Profi-Tänzern. Müssen die Zuschauer hier selbst aktiv werden?
Ja, es geht um Partizipation. William Forsythe wollte etwas Besonderes für Berlin machen. Die Installation „Untitled Instructional Series“ besteht aus choreografischen Anweisungen auf Schildern, denen man folgen kann; sie sind an verschiedenen Orten im Stadtraum verteilt. Es sind einfache Instruktionen wie „Steh auf, gehe fünf Schritte vorwärts mit geschlossenen Augen“, aber auch etwas komplexere, die Choreografie erfahrbar machen soll.

Das Hamburger Kollektiv LIGNA hat ein Radioballett kreiert. Per Kopfhörer lauschen die Teilnehmenden den Bewegungsanweisungen von 13 Künstlern. Ist das ein Versuch, Brücken zu schlagen in diesen schwierigen Zeiten, in denen Reisen kaum möglich ist für Künstler?
Wir haben gemeinsam mit unseren Partnern in Frankfurt/Main, Zürich und Basel mit LIGNA über ein Solidaritätsprojekt gesprochen; sie haben dann das Format dafür kreiert. Wir sind sehr stolz auf die Liste der teilnehmenden Choreografen, die aus aller Welt kommen. Das Projekt schlägt eine neue Form des Zusammenseins vor – genau darum geht es uns.

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