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Baldwins geistiger Bruder. Ta-Nehisi Coates.

© Antoine Doyen/MacArthur Foundation

Ta-Nehisi Coates: Diese Wunden heilen nie

Amerikas Schuld, Amerikas Rassismus: Ta-Nehisi Coates schreibt mit "Zwischen mir und der Welt" eine bittere Anklage gegen die Nation.

Von Gregor Dotzauer

Über 150 Mal das Wort Körper – auf fast jeder Seite von „Zwischen mir und der Welt“ mindestens einmal. Eine nicht abreißende Kette von Verben, die seine Erniedrigung und Auslöschung in allen Varianten beschreiben. 48 Mal das Wort Plünderung in verschiedenen Zusammensetzungen. Knapp 90 Mal das Wort von den Träumern, die den American Dream zu ihren weißen Gunsten zurechtgebogen und sich angeeignet haben. 40 Mal die Erwähnung von Mekka, dem Ort, an dem Ta-Nehisi Coates kurzzeitig aufatmen konnte, einem Synonym für die afroamerikanische Howard University in Washington, D.C., die sich so berühmter Absolventen wie Zora Neale Hurston, Amiri Baraka, Jessye Norman und Toni Morrison rühmen kann.

Schon durch reine Statistik lässt sich der hochrhetorische Charakter dieser wütenden, bitteren, unversöhnlichen Anklageschrift belegen. Die Mühle der schwarzen Demütigungen zeigt sich in der Mühle der Wortwiederholungen. Doch wovon diese Prosa in unendlich geschliffener Form berichtet, wirkt so mühselig gebändigt und kanalisiert, als könnte die literarische Sublimierung jederzeit in Revolte oder Selbstzerstörung umschlagen.

„Zwischen mir und der Welt“, ein Brief an seinen 15-jährigen Sohn Samori, ist die Vermessung eines Abstands, der Schwarze und Weiße als Bewohner unwiderruflich getrennter Galaxien innerhalb der Galaxie Amerika betrachtet. Was sich daran historisch herleiten lässt, rekapituliert Coates mit visionärem Gestus. Es ist eine Anamnese der schwarzen Leidensgeschichte von der Sklaverei bis zur anhaltenden Segregation, von der Lynchjustiz bis zur heutigen Zweiklassenjustiz. In der Summe allerdings gewinnt sie etwas Überhistorisches.

Der erklärte Agnostiker Coates, der von afroamerikanischer Spiritualität und den Tröstungen eines himmlischen Lebens nichts wissen will, betreibt eine Metaphysik des Physischen, die sich darauf verlässt, dass alles, was es in der Sache festzuhalten gilt, längst gesagt ist – nicht zuletzt von ihm selbst. Zugleich spielt er das Persönliche gegen das Überpersönliche aus, als wären es konkurrierende, nicht einander ergänzende Perspektiven.

Rassismus - eine knochenbrecherische Erfahrung

„Unsere ganze Begrifflichkeit – race relations, racial chasm, racial justice, racial profiling, white privilege, sogar white supremacy – dient nur dazu, zu verschleiern, dass Rassismus eine zutiefst körperliche Erfahrung ist, dass er das Hirn erschüttert, die Atemwege blockiert, Muskeln zerreißt, Organe entfernt, Knochen bricht, Zähne zerschlägt.“ Davor, appelliert er an Samori, „darfst du nie die Augen verschließen. Du musst dir immer bewusst machen, dass die Soziologie, die Geschichte, die Wirtschaft, die Tabellen und Statistiken, die Regressionen allesamt mit Wucht auf deinem Körper landen.“

Diese Metaphysik des Physischen, eingehüllt in einen unwiderstehlich eindringlichen Ton, packt den Leser an der Gurgel. Sie schlägt ihm in die Magengrube, sie lässt ihn in ihrem Fatalismus aber auch allein. Der schwarze Leser sieht sich gefangen im Verhängnis einer strukturellen Gewalt, aus der die Flut des „Black-on-black-crime“ hervorgeht, die ihrerseits die weiße Unterdrückung legitimiert. Der weiße Leser wiederum sitzt im Käfig einer Schuld, die kein konkretes Handeln abzutragen vermag.

Die unangenehme Wahrheit, wenn es denn eine ist, sorgt so für eine Passivität, in der sich beide Seiten einrichten können. Ist es das, was diesen Essay in den USA bis auf Platz eins der „New York Times“-Bestseller vorrücken ließ, seinem Autor einen National Book Award einbrachte und darüber hinaus jenes fünf Jahre währende MacArthur Fellowship, das als sogenannter Genius Grant nur die wirklichen Vordenker auszeichnet?

Michael, der Tote von Ferguson, wird zur traurigen Symbolgestalt

Straßenkampf in Ferguson. Nachdem ein weißer Polizist den unbewaffneten, jungen Afroamerikaner Michael Brown im August 2014 erschossen hat, kommt es zu tagelangen Ausschreitungen. Die genauen Umstände seiner Tat bleiben ungeklärt, er wird nicht verurteilt.
Straßenkampf in Ferguson. Nachdem ein weißer Polizist den unbewaffneten, jungen Afroamerikaner Michael Brown im August 2014 erschossen hat, kommt es zu tagelangen Ausschreitungen. Die genauen Umstände seiner Tat bleiben ungeklärt, er wird nicht verurteilt.

© Reuters / Lucas Jackson

Mit Michael Brown kommt mehrfach jener Afroamerikaner zur Sprache, den ein weißer Polizist im August 2014 in Ferguson, Missouri, straflos erschießen konnte. Es folgten monatelange Krawalle, die sogar die Nationalgarde auf den Plan riefen. Brown ist die traurige Symbolgestalt für das rassistische Amerika, in dem Coates seinen Sohn Samori aufwachsen sieht. Aber er ist nichts gegen die Figur, die in seiner privaten Mythologie mit 70 Nennungen weit vor ihm rangiert: sein hochbegabter ehemaliger Kommilitone und Freund Prince Jones, der im Jahr 2000, unbewaffnet wie Brown, im Auto erschossen wurde – ohne Konsequenzen für den Schützen. Der Tod von Prince Jones ist der Auslöser seiner Wut. In ihm konzentriert sich seine ganze, aus dem Autobiografischen ins geradezu Geschichtsphilosophische ausgreifende Verzweiflung, der er mit diesem Buch Herr zu werden versucht.

Ta-Nehisi Coates, 1975 in Baltimore, Maryland, geboren, nimmt in der Form des Briefs an den Sohn dabei James Baldwins berühmten Brief an den Neffen auf, der in „The Fire Next Time“ enthalten ist, der Bündelung zweier zunächst im „New Yorker“ erschienener Texte, die 1964 auch als Rowohlt-Taschenbuch als „Hundert Jahre Freiheit ohne Gleichberechtigung – Eine Warnung an die Weißen“ erschienen. Vielleicht wollte man sie damals, im Jahr der offiziellen Aufhebung der Rassentrennung durch Präsident Lyndon B. Johnson, schon als Entwarnung lesen. Der Originaltitel war dem Spiritual „Mary, don’t you weep“ entnommen, das die Zeilen „God gave Noah the rainbow sign, / No more water, the fire next time!“ enthält. Coates nun erzählt vom unlöschbaren Schwelbrand, der jederzeit lichterloh aufflackern kann.

Seit 2008, dem Jahr, in dem er mit dem Memoir „The Beautiful Struggle“ über seine unruhige Jugend in West-Baltimore und den zeitweise mit den Black Panthers sympathisierenden Vater debütierte, ein Stoff, den „Zwischen mir und der Welt“ deutlich pathetisiert aufnimmt, schreibt er für „The Atlantic“. Dort veröffentlichte er 2014 bereits sein kontroverses, nicht nur im Brückenschlag zu Deutschlands Entschädigungszahlungen an Israel fragwürdiges „Plädoyer für Reparationen“. Es vervollständigt die deutsche Ausgabe und verhält sich zum Haupttext wie der fehlende politische Entwurf zum poetischen Höllengesang.

Ta-Nehisi Coates fühlt sich James Baldwin weit über die Fortschreibung des alten Texts hinaus verbunden. Mit Frau und Sohn wohnt er neuerdings in Paris, wo sein großer Vorläufer vierzig Jahre seines Lebens verbrachte. Vor allem aber bezieht er aus dessen kanonischem Essay „On Being White and Other Lies“ jene einprägsame Formulierung, die er als Angriff auf das weiße Selbstverständnis unzählige Male abwandelt.

Überlegenheitswahn als Ideologie

„Because they think they are white“, lauten die Worte, mit denen Baldwin jede Idee von Rasse als ideologische Konstruktion ablehnt: „Weil sie denken, sie seien weiß.“ Für Coates liegt darin der späte Zusammenschluss ursprünglich getrennter Gruppen im Namen eines Überlegenheitswahns, von dem die vorherigen ethnischen und religiösen Gemeinschaften angeblich nicht betroffen waren: „Die neuen Menschen waren etwas anderes, bevor sie weiß wurden – Katholiken, Korsen, Waliser, Mennoniten, Juden –, und wenn sich unsere nationalen Hoffnungen erfüllen sollen, müssen sie auch wieder etwas anderes sein. Vielleicht werden sie dann wirklich Amerikaner und schaffen ein nobleres Fundament für ihre Mythen.“ Von dieser Verklärung hätte ihn der Blick auf den Nordirlandkonflikt oder die blutigen Konflikte zwischen Israelis und Palästinensern leicht heilen können.

Neben den Hymnen für das Buch und Coates’ Ausrufung zum Starintellektuellen hat es deshalb nicht an Einwänden gefehlt. Andrew Eil hat im „Observer“ auf die schwierige Parallele zwischen Juden und Schwarzen in den USA hingewiesen. Sukhdev Sandu nannte sein Insistieren auf der afroamerikanische Sonderstellung im „Guardian“ provinziell. Vor allem musste er aus der eigenen Community Kritik einstecken. Randall Kennedy warf ihm in „Prospect“ eine „Karikatur der schwarzen Wirklichkeit“ vor. Melvin Rogers erkannte in „Dissent“ eine Reduktion schwarzer Identität auf das körperliche Leid, aus dem sie zweifellos auch hervorgegangen ist. Michelle Alexander stieß sich in der „New York Times“ an der Hoffnungslosigkeit seiner Diagnose.

Ein Zeichen dafür, wie dieses Buch gelesen werden sollte, steckt vielleicht schon in der Verrückung der Bezüge, wie sie in den Titeln der englischen und der deutschen Ausgabe stattfindet. Wo es bei „Between The World and Me“ die Welt zu sein scheint, die die ausschließende Grenze zieht, ist es bei „Zwischen mir und der Welt“ eher die eigene Befindlichkeit. In dieser doppelten Perspektive liegt sowohl das Grundproblem des Buches wie der Zustände, die es beschreibt.

Ta-Nehisi Coates: Zwischen mir und der Welt. Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. Hanser Berlin 2015. 235 Seiten, 19,90 €.

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