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Die Tochter der Filmemacherin wird in "For Sama" zum Symbol für Syriens Zukunft.

© Filmperlen

Syrische Doku über Aleppo: „Für Sama“ ist das Dokument eines Ausnahmezustands

Die syrische Journalistin Waad al Kateab hat das Kriegstagebuch ihrer Tochter gewidmet. Ihr Film ist vielfach preisgekrönt.

Von Andreas Busche

Der erste Zahn. Die erste Haarlocke. Das erste Wort. Was Eltern fürs Familienalbum so dokumentieren, als Erinnerung an eine Zeit, die zu den prägendsten im Leben eines Menschen gehören. Ein Bombenangriff im Juli 2016 ist die erste Erinnerung, die die syrische Journalistin Waad al Kateab in ihrem Filmtagebuch „Für Sama“ für ihr neugeborenes Baby festhält. Damit ihr Kind später wisse, erzählt im Voiceover die zu diesem Zeitpunkt 26-jährige Aktivistin, die unter einem Pseudonym arbeitet, warum sie das alles für sich und ihre junge Familie auf sich genommen hat.

Die Schreckensnachrichten aus Syrien, von den Kämpfen um die Provinzen Aleppo und Idlib, sind in den vergangenen Jahren zur Normalität geworden. Der Westen schaute bei der größten humanitären Katastrophe im 21. Jahrhundert tatenlos zu, solange es die Menschen nicht bis nach Europa schafften. Jetzt, wo nach 2015 erneut Millionen von Menschen vor der „Festung Europa“ stehen, werden sich die Regierungen des Ausmaßes der Tragödie wieder bewusst.

2018 bezifferten die Vereinten Nationen die Zahl der Syrer, die seit Ausbruch der Unruhen ihr Land verlassen haben, auf 6,7 Millionen. Aber Statistiken sind abstrakt. „Für Sama“ ist der verzweifelte Versuch, dem Schicksal von über sieben Millionen Geflüchteten eine Geschichte zu geben.

Die Kinder leiden am meisten

Waad al Kateabs Mann Hamza leitet auf dem Höhepunkt der Belagerung von 2016 eines der letzten funktionierenden Krankenhäuser in Ost-Aleppo. 890 Operationen in 20 Tagen, die freiwilligen Helfer waten durch Blut. Die Journalistin ist mit der Kamera immer dabei, sie zeigt einen der Ärzte, der vor den Augen seiner Brüder einen toten Jungen wegträgt. „Kinder haben nichts damit zu tun“, klagt er mit Tränen in den Augen.

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In einer der erschütterndsten Szenen dokumentiert al Kateab, wie die Ärzte ein Neugeborenes ohne Puls wieder zum Leben erwecken. Ein Wunder in der Hölle. Hier sind plötzlich auch die Grenzen journalistischer Ethik aufgehoben. Die akademische Frage, ob man diese Bilder dokumentieren oder gar zeigen darf, stellt sich nicht mehr. „Dass ich filme, gibt mir die Rechtfertigung, hier zu sein“, erklärt die junge Frau hinter der Kamera trotzig. „Die Gräuel scheinen dadurch einen Wert zu bekommen.“

Es ist schwer, für die Bilder überhaupt Worte zu finden. Waad al Kateab ringt ja selbst ständig um diese, versucht zwischen ihrer Rolle als Journalistin und Mutter eine gesunde Balance zu finden. „Ich beneide die Mutter“, sagt sie beim Anblick eines toten Kindes. „Immerhin starb sie, bevor sie ihr Kind beerdigen musste.“ Die Gnade von Aleppo. Die Aufnahmen waren als Dokument eines Kampfes gedacht – für ihre Tochter, für die Freiheit; nie für einen Film. Die Form des Tagebuchs hat al Kateab beibehalten, als sie nach ihrer Flucht mit dem britischen Dokumentarfilmer Edward Watts das Material mehrerer Jahre sortierte.

Die Syrer wollen ihr Land selbst aufbauen

„Für Sama“ erhält durch diesen Zuschnitt eine filmische Dramaturgie. Der Dokumentarfilm wechselt immer wieder von einer (relativ) unbeschwerten Zeit vor den Unruhen mitten ins Kriegsgeschehen: den Belagerungszustand im Krankenhaus, das zur Zielscheibe der russischen Luftwaffe wird. Schon als Studentin ist al Kateab politisch aktiv, der Protest ist Ausdruck des Zeitgeists auf dem Höhepunkt des „Arabischen Frühlings“. Dass Assad schon damals kompromisslos gegen Regimekritiker vorging, lässt ihr Film nicht aus, ein Vorgeschmack auf die harte Linie im späteren Aleppo-Feldzug.

„Menschen machen Orte zu dem, was sie sind“, sagt die syrische Filmemacherin Waad al Kateab.
„Menschen machen Orte zu dem, was sie sind“, sagt die syrische Filmemacherin Waad al Kateab.

© Filmperlen

Aus diesen Protesten geht der Widerstand hervor, den „Für Sama“ dokumentiert. Ein Arzt, eine Journalistin, ein Architekt bauen ihr Land auf. „Wir müssen Assad danken“, bemerkt eine Frau sarkastisch, „dass er uns zwingt, alles neu zu machen.“ Die Menschen im Krankenhaus stehen zwischen den Fronten: dem Regime, dessen russischen Verbündeten und den islamischen Rebellen, die die Revolution zu kapern versuchen, wie einer der Männer beklagt. Die Belagerten werden zur Familie, sagt al Kateab einmal. Ihre Hochzeit mit Hamza findet während der Angriffe statt. „Unser Gesang war lauter als die Bomben draußen.“

Bleiben in der Hölle Krieg

„Für Sama“ erzählt von einer Gruppe Menschen, die sich weigern, ihre Stadt zu verlassen und dafür zu Terroristen erklärt werden. Diese emotionale Nähe zu den Beteiligten, auch die Momente von Unbeschwertheit, sind für das Verständnis der Motivation von al Kateab und ihrer Mitstreiter wichtig.

Die Filmemacherin rechtfertigt sich immer wieder für ihr Bleiben in der zerstörten Stadt – vor allem gegenüber ihrer Tochter, die nicht als weitere Geflüchtete, in einem Auffanglager an der Grenze nach Europa, in die Statistik der Vereinten Nationen eingehen soll. „Zu fliehen wäre ein schreckliches Vorbild für die Kinder“, beschreibt sie ihre Zerrissenheit. „Zu bleiben hieße, sich der Hölle auszusetzen.“

Diese Kinder spielen in ausgebrannten Bussen, sie bemalen die rostigen Karosserien. Kinder können sich den Umständen klaglos anpassen, aber zu welchem Preis? „Sama, du weinst nie“, sagt die Mutter einmal, „das bricht mir das Herz.“ Ihr Film, der für den Oscar nominiert war und den Europäischen Filmpreis gewann, hat ein Happy End, auch wenn dies angesichts der Bilder unmöglich erscheint. Der Keim dafür ist schon im Namen des Mädchens angelegt: Sama bedeutet Himmel. Noch kommt von oben der Tod. Aber Sama soll später auch einmal das Schöne erfahren: Sonne, Wolken, Vögel.
In 14 Berliner Kinos (alle OmU), deutsche Fassung: Union Filmtheater

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