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Das prophetische Selbstporträt. Nachdem James Ensor sein Atelierbildnis 1896 bereits fertiggestellt hatte, übermalte er das Gesicht nachträglich mit einem Totenkopf und nannte es fortan „Das malende Skelett“.

© Königliches Museum der Schönen Künste, Brüssel / Hugo Maertens

Symbolismus in der Alten Nationalgalerie: Wahnhaft, übertrieben, elegisch, psychologisierend

„Dekadenz und dunkle Träume“ ist die Ausstellung des Jahres. Der belgische Symbolismus passt als Kunst auch für unsere Zeit der globalen Unsicherheit.

Rachegöttin, Todesengel, Wahnsinnswesen, ätherische Schönheit. Die belgischen Symbolisten feierten mit ihren Bildern die Frau als künstlerisches Motiv, machten sie zu Projektionsfläche von Ängsten und Begierden. Normalität gestanden sie ihr nicht zu.

Diese Überspanntheit, das Geheimnissucherische nicht nur in der Darstellung weiblicher Motive, sondern selbst bei Landschaften, Innenräumen, Stadtansichten, lässt die Säle der Alten Nationalgalerie vibrieren.

Selten hat man in diesem Tempel der Kunst des 19. Jahrhunderts eine so überdrehte, aber auch anregende und entdeckungsreiche Schau gesehen. Der in Deutschland bislang eher unterbelichtete belgische Symbolismus bekommt mit der Ausstellung „Dekadenz und dunkle Träume“ endlich seinen Platz auch in der hiesigen Rezeption.

Bislang war der belgische Symbolismus in Deutschland unterbelichtet

Naturalismus, Impressionismus, Pointilismus, Postimpressionismus, Jugendstil – ohne die Symbolisten wird es künftig auch aus deutscher Perspektive nicht mehr gehen, betrachtet man die Kunst zwischen 1870 und 1910.

Die Ausstellung ist ein Lieblingsprojekt von Ralph Gleis, der seit drei Jahren die Alte Nationalgalerie leitet und zuvor am Königlichen Museum der Schönen Künste in Brüssel tätig war. Diese Verbindung dürfte ihm geholfen haben, bedeutende Leihgaben zu bekommen.

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Von rund 200 ausgestellten Werken stammen 180 von auswärtigen Sammlungen: vornehmlich aus Belgien, aber auch aus England und Frankreich, die immer schon dieser Strömung näherstanden. Nur ein einziges Werk wurde wegen Corona abgesagt, bei vielen anderen profitierten die Berliner eher davon. Die geschlossenen Museen zeigten sich mit ihren Gaben großzügiger als sonst, können sie sie doch nicht selber zeigen.

Gefährliches Spiel: die Sphinx und der Knabe Wange an Wange

Zu den Prunkstücken der Ausstellung gehört Fernand Khnopffs „Liebkosungen“, ein extremes Querformat, das den schlanken Raubkatzenkörper der Sphinx mit ausgestrecktem Schwanz in voller Länge zeigt. Zärtlich schmiegt das Zwitterwesen seine Wange an das Gesicht des Jünglings mit nacktem Oberkörper, der wie hypnotisiert nach vorne starrt.

Über der intimen Szene hängt eine gefährliche Spannung. Jeden Moment könnte die Sphinx ihre Pranke gegen den ungeschützten Knaben erheben. Das Lust-Angst-Gefühl schlägt auch den Betrachter in seinen Bann.

Zu Khnopffs gefährlicher Verlockung gibt es auch ein deutsches Motiv aus der Sammlung der Nationalgalerie. Es zeigt gemalt von Franz von Stuck die Schauspielerin Tilla Durieux als verführerische Circe, die leicht vorgebeugt mit erwartungsvollem Blick den Gefährten des Odysseus einen Trunk reicht, der sie in Schweine verwandeln wird.

Darin besteht das verführerisch Charmante der Nationalgalerie-Ausstellung: dass sie eine andernorts höchst populäre Kunstrichtung, deren Protagonisten jedoch hierzulande kaum bekannt sind, mit Highlights der eigenen Sammlung zusammenbringt. Ebenso perfekt fügt sich die „Toteninsel“ von Arnold Böcklin in den morbiden Reigen der Trauernden von George Minne, Léon Frédéric, Félicien Rops und James Ensor ein.

Femme fragile. Zu den bevorzugten Modellen des Malers Fernand Khnopff gehörte seine Schwester Marguerite (1887).
Femme fragile. Zu den bevorzugten Modellen des Malers Fernand Khnopff gehörte seine Schwester Marguerite (1887).

© Heritage Images / Fine Art Image / Königliches Museum der Schönen Künste, Brüssel / Freya Maes

Der Bildhauer Minne schafft die Ouvertüre für den in 13 Kapitel aufgeteilten Parcours. Sein „Jünglingsbrunnen“, den er ursprünglich für das Haus des Sammlers Carl Ernst Osthaus in Hagen schuf, ist hier als Gipsabguss zu sehen. Am Ende der Runde wird man erneut vor einem seiner Knaben stehen, diesmal eine Bronze aus dem eigenen Bestand. Er ist kein selbstverliebter Narziss, der sich in sein eigenes Antlitz vernarrt hat, sondern ein feingliedriger Junge, der eher zaudernd die Arme vor seiner mageren Brust kreuzt, mit den Händen die eigenen Schultern umklammert.

Der Symbolisten erspürten die Verunsicherung der Menschen

Minnes Multiplizierung einer Figur ins Fünffache – nicht aus Selbstbewusstsein, sondern aus Zweifel – ist bezeichnend für die Bildwelt der Symbolisten, die mit ihren Werken psychologisierten. Noch vor Veröffentlichung von Freuds „Traumdeutung“ erspürten sie den überspannten Menschen, der durch die Umbrüche der Moderne seinen festen Ort verloren hat. Gerade darin besteht der Aktualitätsbezug der Schau.

Zu der Verunsicherung durch die drohende Klimakatastrophe und Wirtschaftskrisen, durch Kriegsgefahren, ist mit der Corona-Pandemie auch noch das Gefühl innerer Gefährdung gekommen, des eigenen Körpers. In dem neurotischen Künstler mit verschatteten Augenpartien, als der sich Léon Spilliaert immer wieder porträtierte, können wir uns also durchaus selbst erkennen.

Brüssel war Kreuzungspunkt für Waren und Kunstströmungen

Dass sich der Symbolismus in Belgien formulierte, kam nicht von ungefähr. Das belgische Königreich war das industrialisierteste Land auf dem Kontinent, besaß Kolonien in Übersee, in Brüssel mit seiner Börse kreuzten sich die internationalen Warenströme.

Hier kamen auch die künstlerischen Bewegungen der Zeit zusammen, gab es eine große Offenheit: Pissaro, Gauguin, Seurat, Liebermann, Kollwitz wurden zu den Ausstellungen der Avantgardegruppe „Les Vingts“ eingeladen, van Gogh verkaufte hier sein einziges Bild, den „Roten Weingarten“.

Diese Aufgeschlossenheit lässt ahnen, dass die Symbolisten den eigenen gemalten Wahn nicht ganz so ernst nahmen, wie es auf den ersten Blick erscheint. So übermalte Ensor beim Selbstporträt im Atelier sein Konterfei nachträglich mit einem Totenkopf, Léon Frédéric setzt ein Gerippe seinem nackten männlichen Modell gleich auf den Schoß und nennt es „Das Schöne und das Hässliche folgen den Konventionen“.

Die belgischen Symbolisten konnten vor allem fantastisch malen

Bei Böcklin, der aus dem Nationalgalerie-Bestand wieder hervorragend hinzupasst, lugt ein fiedelnder Tod über die Schulter des Künstlers.

Wahnhaft, übertrieben, elegisch, psychologisierend – auf den belgischen Symbolismus trifft vieles zu. Vor allem ist es fantastische Malerei. Mit jedem Ausstellungskapitel steigt der Besucher tiefer ein, bis er im kleinen Kabinett vor einer Reihe Interieur-Bildern steht.

Vilhelm Hammershois stille Zimmerflucht „Strandgade 30“ setzt den Ton, Spillaert, Le Brun, Ensor halten mit ihren geheimnisvollen Räumen, in denen sich nur selten ein Mensch aufhält, locker mit.

[Alte Nationalgalerie, Museumsinsel, Di–So 10–18 Uhr, 18. 9. bis 17. 1.; Katalog (Hirmer Verlag) 32 €]

Xavier Mellery machte daraus eine eigene Disziplin, malte den Treppenaufgang seines Hauses immer wieder zu verschiedenen Tageszeiten. Mal war die im Flur aufgestellte Skulptur eine Lichtgestalt, mal ein befremdlicher Schattenriss. „Die Seele der Dinge“ nannte er seine Serie und brachte damit den Symbolismus auf einen Begriff. Sie sollten geheimnisvoll bleiben. Das Licht der Moderne schien schon grell genug.

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