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Sven Regener, Robert Menasse, Daniel Kehlmann u.a.: Denis Scheck kommentiert die Bestsellerliste

Einmal monatlich bespricht Literaturkritiker Denis Scheck die „Spiegel“-Bestsellerliste, abwechselnd Belletristik und Sachbuch - parallel zu seiner ARD-Sendung „Druckfrisch“. Diesmal: Belletristik.

10. Sven Regener: Wiener Straße (Galiani, 304 S., 22 Euro)

Die enorm komischen Romane des „Element of Crime“-Sängers Sven Regener um Frank Lehmann sind brillante Schilderungen aus dem mit dem Mauerfall untergegangenen Kreuzberger Milieu und geniale Sprachopern. Niemand in der deutschen Gegenwartsliteratur bannt so souverän Dialekte und Soziolekte aufs Papier wie er.

9. Cassandra Clare: Lord of Shadows: Die dunklen Mächte 2 (Deutsch von Franca Fritz und Heinrich Koop, Goldmann, 832 S., 19,99 Euro)

Ich musste ja schon einiges an Schwachsinn für diese Bestsellerliste lesen. Aber diese zwischen L. A., London und einem Feenreich spielende abstruse Geschichte über die verbotene Liebe zwischen zwei Dämonenjägern ist so fad wie aufgeweichtes Knäckebrot. Darüber können auch die politisch korrekt geschilderten Amouren der lesbisch, schwul, bisexuell und genderfluid Liebenden in diesem lahmen Fantasyschmöker nicht hinwegtrösten.

8. Marc-Uwe Kling: Quality Land (Ullstein, 384 S., 18 Euro)

„Leben wir in einer Diktatur, deren Methoden so sublim sind, dass keiner merkt, dass wir in einer Diktatur leben?“, fragt Marc-Uwe Kling in seiner Science-Fiction-Satire über einen Michael Kohlhaas in einer neoliberalen digitalen Welt. Kling erzählt formal bestechend und einfallsreich von einer nahen Zukunft, in der ein Android für die Präsidentschaft kandidiert und einem von Datenkraken ausgebeutetem Underdog die Erkenntnis dämmert: „Ich bin nicht ihr Kunde. Ich bin nur das Produkt, mit dessen Verkauf sie ihr Geld verdienen.“ Trotz gelegentlich pennälerhaft flachen Witzchen der aufregendste politische Roman seit Langem.

7. Jo Nesbø: Durst (Deutsch von Günther Frauenlob, Ullstein, 624 S., 24 Euro)

Dieser Krimi um einen blutsaufenden Killer ist dagegen ein geistiges Ödland von bemerkenswerter Tristesse. „Smiths Finger legten sich auf Harrys Gesicht und versuchten, ihn wegzudrücken. Dann gab er es auf. Ließ von ihm ab. War Smiths Hirn endlich so sauerstoffleer, dass es ihm die Arbeit verweigerte? Harry spürte die Erleichterung und würgte noch einmal Smiths Blut hinunter.“ Mein Hirn verweigert, konfrontiert mit diesem gedankenleeren Geil-auf-Gewalt-Stuss, auf Anhieb die Arbeit.

6. Maja Lunde: Die Geschichte der Bienen (Deutsch von Ursel Allenstein, Btb, 512 S., 20 Euro)

Drei Handlungsstränge aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen von der symbiotischen Beziehung zwischen Menschen und Biene - und von unserer Torheit, durch Monokulturen, Spritzmittel, Parasiten und extreme Wetterlagen das große Bienensterben auszulösen. In der Zukunft des Jahres 2098 sind die Bienen ausgestorben - bis ein kleiner Junge gestochen wird. Literarisch durchaus befriedigend, allerdings stört die Dauererektion des moralischen Zeigefingers in diesem Roman der Dänin Maja Lunde.

5. Ken Follett: Das Fundament der Ewigkeit (Deutsch von Markus Weber, Lübbe, 1168 S., 34 Euro;)

In der zweiten Fortsetzung seines Kathedralenwälzers „Die Säulen der Erde“ inszeniert Follett die Religionskriege des 16. Jahrhunderts als gigantisches Kasperletheater: eindimensionale Charaktere, hölzerne Dialoge, einfallslose Handlungsfäden. Definitiv ein Fall für die literarische Abrissbirne.

4). Kerstin Gier: Wolkenschloss (Fischer FJB, 464 S., 20 Euro)

Am Schluss dieses in reiner Zuckerwatteprosa geschriebenen Klischeekonzentrats um ein Zimmermädchen in einem Grand Hotel in den Schweizer Bergen stehen Sätze wie: „Manchmal fragte ich mich, ob Tristan und sein Großvater und die Leute von der geheimen Gesellschaft, für die sie angeblich arbeiteten, den Stein aus dem Kollier wirklich zurück in die indischen Tempelanlagen gebracht hatten.“ Auch sonst fehlt dem Roman einiges.

3. Robert Menasse: Die Hauptstadt (Suhrkamp, 459 S., 24 Euro)

Welche Idee liegt eigentlich der europäischen Einigung zugrunde, fragt der Österreicher Robert Menasse in seinem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten, glühend proeuropäischen Roman. Running Gag des Romans in des Wortes wörtlichster Bedeutung ist ein durch Brüssel laufendes Schwein - und die verzweifelten Versuche des Verbands der europäischen Schweinemäster, zu einem Freihandelsabkommen mit China zu kommen, um den Chinesen die Schweineöhrchen, -schnäuzchen und -schwänzchen verkaufen zu können, die in Europa im Tierfutter landen, in China aber als Delikatesse gelten. So vergnüglich und anregend wurde noch nie über die EU geschrieben wie Menasse dies in seinem satirischen Bravourstück gelingt.

2. Daniel Kehlmann: Tyll (Rowohlt, 480 S., 22,95 Euro)

Und jetzt darf ich einen echten Triumph der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur anzeigen. Sprachtrunken, bildersatt und verzaubert habe ich den Roman von Daniel Kehlmann zugeklappt: So ein Wunderbuch begegnet einem nicht jedes Jahr! Eindrücklich gelingt es Kehlmann, rund um den aus dem Spätmittelalter in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges verpflanzten Tyll Ulenspiegel einen Mummenschanz um Macht, Machtmissbrauch und den Hochseiltanz unserer Existenz zu inszenieren, der es in sich hat. Hinreißend!

1. Dan Brown: Origin (Deutsch von Axel Merz, Lübbe, 672 S., 28 Euro)

Als Atheist müsste ich die Religionskritik in Dan Browns Thriller eigentlich begrüßen. Aber sie kommt in diesem Roman um einen in Bilbao ermordeten Super-Nerd und eine durch die Touristenattraktionen Spaniens führende Schnitzeljagd so stumpf und primitiv daher, dass ich lieber zu Kreuze krieche. Anders ausgedrückt: Je länger ich Brown lese, desto mehr bedaure ich den Tod von Michael Crichton.

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