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Die Smoky Mountain in Tennessee.

© mauritius images / Danita Delimont / Anna Miller

Survival-Thriller "Lost": Die Welt ist nicht zahm

Mutterseelenallein in der Wildnis: Mindy McGinnis schickt in ihrem Jugendroman "Lost" eine Schülerin zum Überlebenskampf in einen Nationalpark.

Am zehnten Tag ist der Tiefpunkt erreicht. Ashley hat sich nicht mehr die Mühe gemacht, einen Unterschlupf zu bauen. Stattdessen ist sie unter die tief hängenden Zweige einer Kiefer gekrochen. Im Schlaf hat sie sich die Faust in den Bauch gedrückt, als könnte sie den Magen damit austricksen, die Illusion erwecken, dass er gefüllt sei. Es regnet, sie ist verletzt. Als sie aufwacht, fehlt ihr die Kraft aufzustehen.

„Ich bin es leid“, stellt Ashley fest. „Ich bin es leid, immer weiter zu gehen und doch nirgendwo anzukommen, und ich bin es leid, dass mir alles wehtut, bis hin zu meinen Innereien.“ Warum nicht hier liegenbleiben und einfach für immer einschlafen? Aber Ashley Hawkins, 17 Jahre alt, besitzt das, was Amerikaner Grit nennen: Mumm. „Morgen“, sagt sie sich, „morgen packen wir den Scheiß an.“

Ausflug mit Zeltlager

„Die Welt ist nicht zahm.“ Mit diesem Satz beginnt Mindy McGinnis’ Survival-Roman „Lost“. Die Smoky Mountains, gelegen entlang der Grenze zwischen Tennessee und North Carolina, sind der meistbesuchte Nationalpark der USA. Aber Ashley wird dort 15 Tage lang keiner Menschenseele begegnen. Angefangen hatte alles mit einem harmlosen Zeltlager-Ausflug, den Ashley mit ein paar Gleichaltrigen unternahm. Ein paar haben schon ihren Highschool-Abschluss, Ashley hat noch das letzte Schuljahr vor sich und die Aussicht auf ein Universitäts-Stipendium, weil sie eine herausragende Läuferin ist.

Sie feiern den Beginn der Sommerferien, mit viel Alkohol und in einer sexuell aufgeladenen Atmosphäre. Ashley sagt von sich, dass es nicht viele Menschen gibt, die sie mag. Sie musste sich immer durchkämpfen, stammt aus ärmlichen Verhältnissen, lebt mit ihrem Vater in einem Trailerpark. Die Mutter ist abgehauen. An manchen Tagen muss sie ohne Essen auskommen; Mitglieder einer Kirchengemeinde schenken ihr Altkleider. Eine Demütigung. Verbal kann sie schnell schießen, Gespräche mit Freundinnen werden zum Schlagabtausch.

Liebe ist ein Ort

Liebe bedeutet für Ashley, einen Ort zu haben, „zu dem sonst keiner Zugang hat“. Mit ihrem Freund Duke hat sie diesen Ort gefunden. Glaubt sie. Allerdings taucht im Zeltlager auch Natalie auf, seine Ex. Als Ashley in der Nacht sturzbetrunken aus dem Zelt kriecht, um zu pinkeln, erwischt sie Duke und Natalie in flagranti. Sie holt aus und bricht Duke mit einem Schlag die Nase. Und dann läuft sie weg, barfuß und ohne Ahnung in welche Richtung. Bis sie einen Abhang herabstürzt, wobei ihr linker Fuß von einem rollenden Felsbrocken eingequetscht wird. Der Schmerz schneidet hart durch ihre Trunkenheit. Ashley bleibt erst einmal liegen. Wo sich das Camp befindet, weiß sie nicht. Um sie herum nichts als Wildnis.

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Mindy McGinnis, die in einer Farmer-Familie in Ohio aufwuchs, hat Historien-, Mystery- und Fantasy-Romane geschrieben. Sie schafft es, die Gerüche, Farben und Geräusche des Waldes spürbar werden zu lassen. Man dürfe den Hochglanzprospekt eines State Parks nicht mit der Wirklichkeit verwechseln, warnt ihre Heldin zu Beginn. Die Geschichte spielt im späten Frühjahr, nachts wird es elendig kalt, ein klammer Dauerregen legt sich über die Welt.

Mut aus einem Kinderlied

Ashley bastelt aus Ästen eine Krücke und aus ihrem T-Shirt eine Schlinge, an dem sie den zerschmetterten Fuß aufhängen kann. Während sie mühsam voranhumpelt, singt sie ein Kinderlied, um sich Mut zu machen: „The bear went over the mountain / And what do you think he saw?“ Die Leser:innen sind nah dran an der Ich-Erzählerin, blicken durch ihre Augen in den endlosen Wald. „Ganz in der Nähe schlägt der Blitz ein. Ich kann es riechen, scharf und beißend. Der Wind frischt auf und schiebt mich voran“.

[Mindy McGinnis: Lost. In der Wildnis hört dich niemand. Aus dem Englischen von Kattrin Stier. Rowohlt Rotfuchs. 233 Seiten, 14 €. Ab 14 Jahre]

Es gibt noch einen anderen, süßlichen Geruch, er geht vom Fuß aus, der sich entzündet hat, anschwillt. Ashley muss den bereits abgestorbenen Teil loswerden, sonst könnte eine Blutvergiftung sie umbringen. Sie entdeckt einen halb zugewachsenen Wohnwagen, ein Drogenlabor, in dem Crystal Meth produziert wurde.

Es folgt eine drastische Szene. Ashley betäubt sich mit Schmerztabletten aus dem Trailer, ruft „Scheiße“ und schlägt mit einem angespitzten Feuerstein zu. „Etwas rollt über den Boden und mein erster Gedanke ist, dass ich danebengeschlagen habe. Dann sehe ich, dass es mein Fuß ist, der sich davongemacht hat.“ Sie hat drei Zehen verloren und ist gerettet. Vorerst.

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