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Große Gedanken im Schulheftformat. Ein Cover der "alternative".

© Abb.: R/D

Suche nach einer materialistischen Ästhettik: Kampf und Klasse

Moritz Neuffer widmet sich der Geschichte der linken Theoriezeitschrift „alternative“.

Es gab eine Zeit, in der Bleiwüsten intellektuelle Erregung auslösten und das Wort Theorie wie Offenbarung klang. Graue Textlandschaften, Rücken an Rücken, ersetzten die Tapeten in den Untermieter- und späteren WG-Zimmern, und in den Hinterhofdruckereien erlebten Zeitschriften eine seltene Blüte.

Das Bedürfnis nach theoretischer Selbstaufklärung in einer als krisenhaft empfundenen Situation war so groß, dass das „Kursbuch“ oder „Das Argument“ in ihren Hochzeiten auf Auflagen von mehreren Zehntausend kamen. Einflussreich, obgleich heute nur noch Insidern bekannt, war auch die „Alternative“, die rund 20 Jahre lang diesen Prozess forcierte und sich weitgehend unabhängig im zersplitterten Feld der linken Kultur vor und nach 1968 behauptete. Der Historiker Moritz Neuffer, der am Leibniz-Zentrum Berlin Literatur- und Kulturforschung betreibt, hat die programmatisch roten Bände nun ausgegraben und die „journalistische Form der Theorie“, so der Titel seiner Monografie, entschlüsselt.

[Moritz Neuffer: Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift „alternative“ 1958-1982. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 415 Seiten, 36 €.]

Ursprünglich müsste man von zwei Zeitschriften sprechen, denn die 1957 zunächst mit dem Untertitel „Lyrische Blätter“, dann als „Blätter für Lyrik und Prosa“ unter anderen von Ansgar Skriver herausgegebene Gazette fühlte sich noch ausschließlich der Literatur verpflichtet und einem pazifistischen Engagement, das sich aus dem Bewältigungswillen der Nachkriegsgeneration speiste.

Dunstkreis des SDS

Nachdem sich der SDS, in dessen Dunstkreis die Zeitschrift entstand, von der SPD gelöst und die Herausgeber sich aus der zusehends radikalisierten Studentenbewegung zurückgezogen hatten, gab Hildegard Brenner ab 1964 dem nun als „Zeitschrift für Literatur und Diskussion“ firmierenden Blatt eine neue, den gesellschaftlichen Veränderungen und intellektuellen Bedürfnissen verpflichtete Richtung. Einerseits bewandert in der Theorietradition der Weimarer Republik und andererseits in engem Kontakt mit dem Literaturgeschehen in der DDR, gelang es der 1927 geborenen Literaturwissenschaftlerin mit Geschick und Autorität, die linken Jungintellektuellen für das Non-Profit-Projekt zu begeistern – nicht zuletzt angesichts einer Germanistik, die schwer an ihrem NS-Erbe trug.

„Materialistische Kunsttheorie“ lautete das Stichwort, das in den Theoriekreislauf eingebracht wurde. Es zielte auf eine nicht kontaminierte, operationalisierbare Ästhetik, die auch als Werkzeug im Klassenkampf eingesetzt werden konnte. So eigneten sich die jungen Redakteur:innen, zu denen Helga Gallas ebenso gehörte wie Georg Fülberth, Klaus Laermann, Helmut Lethen und der inzwischen verstorbene Historiker Heinz-Dieter Kittsteiner, die verschütteteten Traditionsbestände an, von Karl Korsch und Bertolt Brecht über Georg Lukács bis zu Walter Benjamin.

Insbesondere die Auseinandersetzung mit Letzterem, aus der bewusst provozierende Hefte hervorgingen, schürte einen Konflikt mit dem Adorno-Schüler und Benjamin-Herausgeber Rolf Tiedemann. Die Redaktion warf ihm eine politisch verharmlosende Manipulation des Benjaminschen Werks vor, eine Kritik, die auch an die Grandseigneurs der Kritischen Theorie, Adorno und Horkheimer, adressiert war. Der als Benjamin-Debatte in die Annalen eingegangene Streit, machte die „Alternative“ über den engeren Lesekreis hinaus bekannt.

Wo ist die Praxis?

Waren die Zeitschrift und ihre Macher:innen noch mit der Suche nach dem handelnden Subjekt der Geschichte und einer sich selbst auferlegten „Praxis“ befasst, schienen doch schon die Irritationen des von Frankreich her kommenden (Post-)Strukturalismus auf, der die marxistische Gesellschaftstheorie in Frage stellte. „Es fehlen Hefte, die Anleitung zum Handeln sind“, forderte Hildegard Brenner 1968. Der spätere Stichwortgeber der „Alternative“, Louis Althusser, dekretierte dagegen: „Das Kapital macht die Geschichte, nicht der Mensch.“

Von der Krise des Marxismus blieb auch das Kollektiv in Brenners Schöneberger Atelierwohnung nicht verschont. Eine Zeitlang flüchtete man sich noch einmal mit Brecht in die „kleine Pädagogik“, werkelte an einem literaturtheoretischen Gegenkanon oder unternahm Streifzüge in die alternative Theaterarbeit, die damals in Schulen und Fabriken entstand. Doch die Möglichkeiten verengten sich mit dem Ende der Reformpädagogik und der zunehmenden politischen Repression, die mit dem Radikalenerlass 1972 ihren Ausgang nahm.

Deutlich wird in Neuffers Studie, die auch ausgedehnte Ausflüge zur französischen Nouveau Gauche und englischen New Left unternimmt, dass Zeitschriften auch besondere journalistische Formen kultivierten. In den sechziger Jahren waren dies die Dokumentation, durch die Tatsachen politisiert wurden, und später das Interview, mittels dessen sich komplizierte Theorien für ein breiteres Publikum übersetzen ließen.

Wandel der Medienlandschaft

Die Krise, in die Zeitschrift und Redaktion Ende der siebziger Jahre dennoch geriet, hatte, wie angedeutet, politische Ursachen. Theorie und Praxis waren nicht auf die gewünschte Weise in Deckung zu bringen. Hinzu kam der Wandel der Medienlandschaft mit ihrer zunehmenden Bedeutung der Bilder.

Die begleitende Theorie-Buchreihe bei Luchterhand, in der auch Helga Gallas’ erfolgreiche „Marxistische Literaturtheorie“ erschienen war, wurde schon früher eingestellt, die Zeitschrift 1982 von Brenner autokratisch beerdigt, nachdem der Abgang von Helga Gallas schon auf innere Verwerfungen hingedeutet hatte. „Die linke Theorie hat keinen Ort und keinen Reflexionsraum mehr“, heißt es zum Abschied, und die heute Protestierenden „machen keinen Gebrauch mehr von dem, was wir produzieren.“

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So ging die Bildungsreise, die Kittsteiner mit der Zeitschrift verbunden hatte, zu Ende, der „Transitraum“ (Gallas) schloss sich. „Sprechen in Zeiten der Sprachlosigkeit“ titelte eines der letzten Hefte der „Alternative“. Deren spezifische Produktivität, resümiert Neuffer, habe in ihren Distanzgesten gegenüber dem dogmatischen Marxismus bestanden, auch wenn der „Erwartungshorizont“ mit dem „Erfahrungsraum“ nicht in Übereinstimmung gebracht werden konnte.

Ein in der Studie reichlich genutztes Begriffsbesteck, das den Nachlassbearbeiter des Werks von Reinhart Koselleck verrät – und den Nachgeborenen: So haben die Protagonist:innen von damals nicht gedacht.

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