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Gewaltbereite Trump-Unterstützer erklären sich vor dem Kapitol in Washington D.C. zu Volksvertretern

© AFP

Sturm auf das Kapitol: Sie sind nicht das Volk!

Gewaltbereite US–Bürger dringen ins Kapitol ein. Die Ausschreitungen sind Zeugnis einer tief gespaltenen Gesellschaft

Von Andreas Busche

Die Bilder, die der bizarre Sturm auf den Kapitolshügel in Washington DC am Mittwoch produzierte, werden noch lange in der amerikanischen Politik nachhallen. Männer mit Wikingerhelmen und Trapper-Fellhüten, die im US-Kongress stolz für die Kamera posieren oder Inventar durch die Flure tragen; einer der Umstürzler fläzt sich auf dem Podiumsplatz, auf dem normalerweise der Vizepräsident sitzt; Konföderiertenflaggen in der Kuppelhalle.

Das Video von einem Wachmann, der sich dem Ansturm des Mobs entgegenzustellen versucht, aber angesichts der Übermacht immer weiter durch das Treppenhaus nach oben getrieben wird, ging später viral. Nach Mitternacht trat Mike Pence vor die Kamera und verurteilte das Vorgehen der selbsternannten Demokratieverteidiger, das sein Chef zuvor in einer Videobotschaft noch gutgeheißen hatte: „Gewalt wird niemals siegen“, erklärte Pence. „Die Freiheit siegt. Dies ist immer noch das Haus des Volkes.“

„We The People“ lautet der erste Satz der US-Verfassung. Aber wie sich dieses ominöse Kollektiv „Volk“ exakt definiert, beschäftigt Staatsrechtler seit über zwei Jahrhunderten. Mike Pence, ein Vizepräsident mit einer Rechtsauffassung, die in weiten Zügen noch aus dem 19. Jahrhundert stammt, scheint mit dem Begriff nicht die Bürger gemeint zu haben, die am Mittwoch durch die Flure des Kapitols marodierten.

Auf CNN fand man noch ganz andere Worte, da war abwechselnd die Rede von einem „Staatsstreich“, einem „Aufstand“ (Insurrection), „Terrorismus“ oder gar von willfährigen „Idioten“, die dem Aufruf eines (noch) amtierenden Präsidenten folgen, der sich mit letzter Kraft an seine verbliebene Macht klammert. Aber ist das per Definition überhaupt möglich, der Putsch durch einen Machthaber? Und wer ist hier eigentlich noch „das Volk“?

Krisen befeuern die allgemeine Unsicherheit

In der modernen Staatstheorie hat sich der verfassungsrechtlich schärfere Begriff des „Volkssouveräns“ durchgesetzt, als Bezeichnung für die konstituierende Gewalt der Bürgerinnen und Bürger und als demokratische Legitimation für den Verfassungsstaat.

Der König war ein Herrscher von Gottes Gnaden, diesem Herrschaftsprinzip erteilte die Französische Revolution eine Abfuhr. An seine Stelle traten Präsident, Premierminister oder Kanzlerin, die allein durch Volkes Willen legitimiert sind. Dieses Prinzip, das sich über zweihundert Jahre mehr oder weniger bewährt hat, steht in jüngerer Zeit auch in gewissen Kreisen westlicher Gesellschaften wieder zunehmend infrage.

Vizepräsident Mike Pence verurteilte Mittwochnacht den Angriff auf die amerikanische Demokratie.
Vizepräsident Mike Pence verurteilte Mittwochnacht den Angriff auf die amerikanische Demokratie.

© Saul Loeb/dpa

Äußere Krisen haben diese Unsicherheit befeuert: Finanzcrashs, die globalen Fluchtbewegungen, ein erstarkter Nationalismus, die Pandemie. Im August drang eine unheilvolle Allianz aus Reichsbürgern, Rechtsradikalen, Verschwörungstheoretikern und besorgten Bürgern zum Reichstag vor, dem Sitz des Bundestages; die Polizei wirkte machtlos.

Die Reputation des Volkssouveräns leidet

Politisch war diese Aktion, ähnlich wie am Mittwoch der Sturm auf das Kapitol, eine Luftnummer. Aber die Bilder sind verheerend, sie beschädigen nicht nur die demokratischen Institutionen, sondern letztlich auch die Reputation des Souveräns. Denn die Logik der „Demonstranten“ ist perfide. „Dem deutschen Volke“ steht über dem Reichstag, bei den Corona-Demonstrationen hat der Satz „Wir sind das Volk“ ein Comeback erlebt.

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Dabei ist die Forderung aus diesen Mündern eine Anmaßung, historisch betrachtet ist es der Ruf der Machtlosen. Mit ihm wurden Diktaturen gestürzt, 30 Jahren später wird er benutzt, um demokratische Institutionen zu delegitimieren.

Das Kapitol in Washington ist wie das Reichstagsgebäude ein „Haus des Volkes“. Es gab allerdings Zeiten, da waren sie dem Volk zugänglicher. Nach 9/11 musste man die Institution gegen den Terror von außen sichern, inzwischen kommt auch das amerikanische Volk nicht mal mehr auf 500 Meter an seine Vertreter heran.

Der Vorplatz vor dem Kapitol, auf dem am Mittwoch versprengte Grüppchen und in Camouflage-Mustern kostümierte Frührentner herumlungerten, ist inzwischen für die Öffentlichkeit gesperrt. Und in Berlin liegen die Pläne für einen Graben um den Bundestag schon länger in den Schubladen. Muss das Haus des Volkes inzwischen auch vor den Bürgern verteidigt werden?

Die Öffentlichkeit zerfällt in Grüppchen

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt“, schrieb Carl Schmitt 1922 in seiner „Politischen Theologie“. Sein Zeitgenosse John Dewey, ein amerikanischer Philosoph und Demokratieverfechter, sah hingegen im Austausch die Grundlage einer funktionierenden „Citizenship“. Für Dewey hat jede menschliche Handlung Folgen für andere Menschen, sie führen zu besseren Entscheidungen. „Wenn die indirekten Folgen anerkannt werden und versucht wird, sie zu regulieren, entsteht etwas, das die Merkmale eines Staates besitzt.“

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In Zeiten zunehmend hermetischerer Partikularöffentlichkeiten kann diese Forderung nach Eigenverantwortung aber auch zu einem Gefühl von Ohnmacht führen. Anders lässt es sich nicht erklären, wenn Zehntausende von Menschen auf die Straße gehen, um wider ihre Interessen (wirtschaftliche Sicherheit, Gesundheit, Solidarität) zu protestieren.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn Mike Pence als Mitglied einer Regierung, die die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft so weit wie keine andere zuvor vorangetrieben hat, nun von einem Haus des Volkes spricht. Es wird nicht zuletzt in der Verantwortlichkeit der Biden-Regierung liegen, die Vorstellung von „Citizenship“ wieder mit einem Gemeinsinn zu füllen, in dem sich nicht nur 51 Prozent aller Wahlberechtigten wiedererkennen. Dabei könnte schon helfen, die Beschränktheit der eigenen Größe zu akzeptieren.

Demokratien, die sich vom Volk entfremden, sind angreifbar

An Bilder aus Belarus fühlte sich CNN-Kommentator Van Jones beim Sturm auf Washington erinnert, sie seien der ältesten Demokratie unwürdig. Doch man kennt solche Szenen längst auch aus anderen westlichen Gesellschaften. Demokratien, die sich von ihrem Souverän entfremden, machen sich angreifbar. Vier Jahre unter Donald Trump haben gezeigt, dass westliche Demokratien nicht selbstverständlich Leuchttürme der Freiheit sind.

Am Mittwoch ging der Sturm auf das Kapitol – auch wegen der fahrlässigen Zurückhaltung von Polizei und Nationalgarde – relativ glimpflich aus, trotzdem verloren vier Menschen ihre Leben. Man muss sich aber nur vorstellen, was geschehen wäre, wenn Aktivisten der „Black Lives Matter“-Bewegung nach 400 Jahren Unterdrückung der afroamerikanischen Bevölkerung die Barrikaden am Kapitol gestürmt hätten.

Die verstörenden Szenen aus dem „Haus des Volkes“ geben einen Vorgeschmack, was passiert, wenn demokratische Gesellschaften in immer fragmentiertere Öffentlichkeiten zerfallen, zwischen denen es keinen Austausch mehr gibt.

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