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Ausschnitt eines "Casta"-Gemäldes aus dem Museo Nacional del Virreinato in Mexiko

© Wikipedia

Stuart Hall über Rasse, Ethnie und Nation: Wie wir glauben, was wir sind

Endlich auf Deutsch zu lesen: Der große Kulturwissenschaftler Stuart Hall untersucht das verhängnisvolle Dreieck von Rasse, Ethnie und Nation.

Im Madrider Museo de América findet sich wie in vielen anderen Museen eine gemalte Darstellung des „Kasten“-Systems im kolonialen Neuspanien: Bild für Bild lächelnde Paare mit ihrem Nachwuchs. Links oben steht ein Spanier, seine Frau kommt aus der Neuen Welt, ihr Kind ist folglich mit dem Schriftzug „Mestizo“ gekennzeichnet. Wird dieser Mestizo mit einer Spanierin ein Kind bekommen, nächstes Bild, dann wird es ein „Castizo“ sein, und wenn dieser Nachwuchs wiederum mit einer Spanierin hat, drittes Bild, dann darf sich dieser endlich Spanier nennen. Ein offenes System?

Sieht man die Bilder genauer an, wird klar, dass es nicht um ein gleichberechtigtes buntes Miteinander geht, sondern um eine zersplitterte Gesellschaft mit enormem Gefälle von Wohlstand und Mitbestimmung. Die Personen auf dem ersten Bild sind üppig gekleidet, sie scheinen spazieren zu gehen. Die Personen auf dem letzten Bild sind dunkelhäutige, barfüßige Straßenhändler, und ihre „Kasten“ tragen so fantasievolle wie abschätzige Namen: „Noteendiendo“ (Ich verstehe dich nicht) etwa oder „Tornaatraz“ (Wende dich um). Von den Menschen links oben sind sie nicht nur durch mehr als zehn Generationen entfernt, sondern im Hier und Jetzt auch durch ihre Armut.

Was Stuart Hall wohl zu dieser Alchimie der Hautfarben gesagt hätte? Der jamaikanisch-britische Kulturtheoretiker sah in solchen kolonialen Manifestationen der Differenz Urszenen auch für unsere gegenwärtigen politischen Identitätsfragen. So erinnerte er sich selbst an eine Episode aus der Geschichte der „Begegnung des Westens mit dem Anderen“, bei der er im London der 70er von britischen Bekannten aufgefordert wurde, zu ihrer Party etwas „Ethnisches“ anzuziehen, und dann ratlos vor seinem Kleiderschrank stand. Den Hinweis auf seine vermeintlich „ethnische“ Herkunft trug er im Gesicht: dunklere Haut, breitere Nase, krausere Haare. Gab es da nicht irgendwo auch ein buntes Gewand?

Gemeinsame, positiv gewendete Zuschreibungen

Hall hielt 1994 in Harvard Vorträge über „Rasse, Ethnie, Nation“. Sie sind nun, fast ein Vierteljahrhundert später, unter dem Titel „Das verhängnisvolle Dreieck“ auf Deutsch erschienen. Auch die englische Ausgabe erschien erst letztes Jahr aus dem Nachlass des 2014 verstorbenen Hall. Es geht darin zunächst um „Rasse“ als „gleitenden Signifikanten“, also ein Zeichen, das keine fixe Bedeutung trägt, sondern dessen Implikationen sich in der Tektonik der Diskurse verschieben. Auch nach der Desavouierung der biologischen Rassenlehre, so Hall, wäre es ungenügend, wenn man die offenkundigen phänotypischen Differenzen leugnete. Denn sie tragen je nach kultureller Situation viele Bedeutungen, sie sind nicht unsichtbar. Es geht auch nicht darum, sie unsichtbar zu machen, sondern die Bedeutungssysteme zu verstehen, an die sie geknüpft sind.

In der Vorlesung über „Ethnie“ geht es um die positive Identifikation mit vormals rassistisch-abwertenden Zuschreibungen, also etwa der Black Community, die über unterschiedliche kulturelle Hintergründe hinweg eine gemeinsame Ethnizität postuliert. Ob jemand aus Jamaika, aus Kolumbien oder aus New Orleans stammt, ist freilich ein großer Unterschied. Dennoch gibt es gemeinsame, positiv gewendete Zuschreibungen, die Hall nicht ohne Faszination, allerdings mit zwiespältigem Urteil beobachtet.

Der Brexit hätte Hall wenig überrascht

Der Herausgeber der Vorträge, Kobena Mercer, aktualisiert diesen Punkt nicht ohne Grund in seinem Vorwort. Es geht um die Frage nach der Identität, danach, wie sehr sie an ethnisch-kulturelle, an „rassische“ (der Übersetzer bittet um Verständnis für die Wortwahl, die nah am Original ist) oder an traditionalistisch-nationalistische Diskurse gebunden ist.

Deshalb ist es wohl kein Zufall, dass Halls Ausführungen ausgerechnet im dritten, der „Nation“ gewidmeten Abschnitt einer Beschreibung unserer Epoche nahekommen. Mit der Globalisierung kannte Hall sich 1994 schon ebenso gut aus wie mit Privatisierung, Sozialabbau und regressiv-nationalistischer Politik. Schließlich war er ein wachsamer Beobachter der Thatcher-Jahre und ihrer politisch-diskursiven Bedeutungsverschiebungen, die bis heute nachwirken. Der Brexit hätte ihn vermutlich wenig überrascht. Die Europaskepsis seiner Mitbürger kannte er ebenso wie deren sehnsüchtige Glorifizierung des Empires. Die Identität aber, auf die sich nationalistische Bewegungen berufen, ist, so zeigt Hall, entgegen ihrer Sehnsucht nichts Stabiles, in irgendeinem Ursprung sicher Vorhandenes, auf das man sich nur zurückbesinnen muss. Es wird immer neu ausgehandelt, weil es nur dort existiert, wo es sich aufs Spiel setzt.

Für ihn geht es um einen „Übergang von der Identität zur Identifikation“, einer Kulturleistung des Selbst, die einer Gemeinschaft nicht als „Kultur“ und somit statischer Bezugspunkt zur Verfügung steht. Die Politik kultureller Differenz, die „im Rasse- und Ethnizitätsdiskurs gründet“, ist für Hall ein Schauspiel von Verschiebeprozessen. Essenzialisierungen („die Deutschen“, „der Westen“) lösen ihren Anspruch nicht ein, sie gehören nur zum Bühnenbild, das sich von Akt zu Akt wandelt. Erst von dieser Einsicht aus lässt sich ein gemeinsames politisches Sprechen der Subjekte verwirklichen, nicht in Fantasien von einer unveränderlichen kollektiven Identität.

Stuart Hall: Das verhängnisvolle Dreieck. Rasse, Ethnie, Nation. Hrsg. von Kobena Mercer. Aus dem Englischen von Frank Lachmann. Suhrkamp, Berlin 2018. 212 Seiten, 28 €.

Hans-Christian Riechers

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