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Mit dem Erbe auf Tournee. Das Jewish Chamber Orchestra Munich hat gerade ein neues Album aufgenommen.

© Stefan Randlkofer

Stolpersteine der Musikgeschichte: Diese zwei jüdischen Orchester feiern den Klang der Verfemten

Erinnerung? Gegenwart! In Hamburg und München setzen sich jüdische Kammerorchester für die Werke von verfolgten Komponisten ein – und für eine lebendige jüdische Kultur.

Als das Jewish Chamber Orchestra Hamburg Mitte Mai sein erstes Konzert in diesem Jahr gab, musste die Polizei es bewachen. Gerade beschossen sich die israelische Armee und die Hamas, und in Deutschland häuften sich antisemitische Ausschreitungen. Auf dem Programm in den Hamburger Kammerspielen standen Werke von Johannes Brahms und Viktor Ullmann – in jedem Konzert präsentiert das Ensemble mindestens ein Stück eines von den Nazis verfolgten Komponisten.

Gegründet hat das Orchester vor drei Jahren der Cellist Pjotr Meshvinski. Oder besser, er hat es „wiederbelebt“, wie er sagt, in Anlehnung an das Jüdische Kammerorchester im Hamburg der Nazizeit. Dort hatte der Geiger, Dirigent und Komponist Edvard Moritz es als Notgemeinschaft ins Leben gerufen, im Herbst 1934. Schon im August 1935 folgte ein Berufsverbot. Nach nur vier Konzerten musste Edvard Moritz, der auch das Berliner Jüdische Kammerorchester dirigierte, die Gruppe wieder auflösen.

Das Hamburger Orchester war nicht das einzige jüdische Ensemble in Deutschland. Als das NS-Regime jüdischen Musikerinnen und Musikern die Auftrittsmöglichkeiten zunehmend verwehrte und sie die Orchester nach und nach verlassen mussten, staatliche wie private Ensembles, schlossen sich viele zu eigenen Gruppierungen zusammen. 1933 entstand in Berlin der Kulturbund Deutscher Juden, der auch Theateraufführungen organisierte, mit Lessings „Nathan der Weise“ im Berliner Theater in der Charlottenstraße startete und ein eigenes Orchester unterhielt.

Der Kulturbund konnte den Musikern nur wenig zahlen, 1937/38 verdienten die 40 Orchestermitglieder monatlich etwa 195 Reichsmark. Trotzdem fanden fast täglich Veranstaltungen statt, auch wenn sie einzeln vom Propagandaministerium genehmigt werden mussten. Und die Gestapo saß ständig im Publikum.

Wenigstens hatten Jüdinnen und Juden auf diese Weise die Möglichkeit, noch eine Zeitlang gemeinsam Kultur zu veranstalten und zu erleben – auch als Publikum waren sie ja vom sonstigen Kulturleben ausgeschlossen. Die Nazis schufen ein kulturelles Ghetto: Nicht-Juden durften umgekehrt die Kulturbund-Abende nicht besuchen.

Man spielte sogar antisemitische Zeitgenossen

In anderen Städten entstanden bald ähnliche Vereinigungen. Für 1935 sind über 36 lokale Kulturbünde nachgewiesen, mit insgesamt etwa 70 000 Mitgliedern. Ihre Lebensdauer währte überall nur wenige Jahre: 1941 wurden die Kulturbünde aufgelöst.

An die Tradition der jüdischen Orchester im Rahmen der Kulturbünde erinnern heute gleich mehrere Jüdische Kammerorchester, nicht nur in Hamburg, auch in München, Dresden, Recklinghausen oder Stuttgart. In Berlin existierte ein solches Ensemble ab 1998, es trug den Namen La’alot, was so viel wie „Hinaufsteigen“ bedeutet, aber auch „Einwandern in das Land Israel“.

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Der Oboist und Dozent Ichil Golzmann versammelte 25 jüdische Musiker um sich, Russinnen und Russen sowie einen israelischen Cellisten. Wie die Kammerorchester in den 30er Jahren spielte es Werke aus dem klassischen Repertoire sowie jüdische Komponisten, Tzvi Avni, Alfred Schnittke oder Samuel Barber. Das Ensemble löste sich jedoch nach wenigen Jahren wieder auf.

Das heutige Jewish Chamber Orchestra in Hamburg hält es bei seinen aktuellen Programmen ebenfalls ähnlich wie sein Vorgänger in der NS-Zeit und mischt von nicht-jüdischen und jüdischen Komponisten. In den 30er Jahren forderten die Nazis ausdrücklich, dass die jüdischen Orchester Werke jüdischer Komponisten spielten – anderswo waren sie nicht mehr erlaubt. Die Programmhefte des damaligen Hamburger Ensembles verzeichneten aber auch die großen Namen der Klassik. Es spielte sogar Zeitgenossen wie Florent Schmitt, ein Antisemit und glühender NS-Anhänger.

Das musikalische Erbe zum Klingen bringen

Das Jewish Chamber Orchestra hat es sich zur Aufgabe gemacht, an die verfemten Künstler zu erinnern. „Es ist seelisch sehr schwer, diese Musik zu spielen“, sagt Pjotr Meshvinski. „Das kann man nicht ruhig machen, auch nicht jeden Tag. Ich heule fast jedes Mal, wenn ich das spiele. Aber die Musik muss unbedingt erklingen.“

In der zwölfteiligen Veranstaltungsreihe „Musikalisch-Literarische Stolpersteine“ im Rahmen des bundesweiten Festprogramms „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ bringt das Ensemble dieses musikalische Erbe nun das ganze Jahre über zum Klingen.

Dabei werden zur Musik von Ullmann, Hans Krása, Mieczyslaw Weinberg oder Erwin Schulhoff, aber auch von Brahms oder Schostakowitsch Texte zur jüdischen Kultur gelesen, unter anderem von Burghart Klaußner. Bei der Auftaktveranstaltung im Mai sprach Lea Rosh, die Initiatorin des Berliner Holocaust-Mahnmals, über alten und neuen Antisemitismus in Deutschland. Am gestrigen Sonntag stand Musik von Gideon Klein auf dem Programm, zudem Texte von Mascha Kaléko, Imre Kertész und Scholem Alejchem.

Der Veranstaltungsort, die Hamburger Kammerspiele, ist nicht zufällig gewählt. Genau hier trat das Ensemble des Jüdischen Kulturbunds auf, bis die Gestapo das Haus als Proviant- und Versorgungsstelle für Deportationen nutzte. Im Juli 1942 wurde es zur Sammelstelle für einen der Hamburger Transporte nach Auschwitz.

Pjotr Meshvinski ist es wichtig, dass das Orchester an Erinnerungsorten wie diesem auftritt. Gleichzeitig spielen Herkunft und Religionszugehörigkeit der Musiker jedoch keine Rolle. „Wir sind eine Synagoge, zu uns kann jeder kommen. Vorausgesetzt, es sind gute Musiker,“ meint er mit trockenem Humor.

Verfolgte Musik zum Klingen bringen. Das Jewish Chamber Orchestra Hamburg lädt zur Veranstaltungsreihe „Musikalisch-Literarische Stolpersteine“.
Verfolgte Musik zum Klingen bringen. Das Jewish Chamber Orchestra Hamburg lädt zur Veranstaltungsreihe „Musikalisch-Literarische Stolpersteine“.

© Bo Lahola

Szenenwechsel. In München schüttet es gerade in Strömen, es ist der bisher regenstärkste Tag im Jahr. Einen Katzensprung vom Gasteig entfernt liegen die Bavaria Musikstudios. Drinnen ist nichts von dem Regengeprassel zu hören, dafür eine wiegende Streicherphrase: Das Jewish Chamber Orchestra Munich nimmt seine neue CD auf.

Musik von Fanny Hensel und die Hebriden-Ouvertüre ihres Bruders Felix Mendelssohn Bartholdy in der Urversion – für den künstlerischen Leiter und Dirigenten Daniel Grossmann ein Herzensprojekt. Umso mehr freut er sich über die hochkarätige Besetzung: Mit von der Partie sind die israelische Opernsängerin Chen Reiss und die Violinistin Arabella Steinbacher.

[Die nächsten Konzerte des Jewish Chamber Orchestra Hamburg finden am 8. und 22. August in den Hamburger Kammerspielen statt. Informationen: jco-hamburg.de; auch auf Youtube ist das Orchester aktiv. Das Jewish Chamber Orchestra Munich tritt am 19. Juli im Gasteig auf, am 24.7. in der Synagoge Ichenhausen, am 25.7. in Wolfratshausen. Informationen: www.jcom.de]

Daniel Grossmann ist ein lässiger Typ: Jeans, Pulli, graumelierte Haare. Vor 16 Jahren gründete er das Münchner Chamber Orchestra, zunächst unter dem Namen Orchester Jakobsplatz München. Dass am Jakobsplatz das größte, jüdische Gemeindezentrum in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, wussten allerdings nur die Münchnerinnen und Münchner, wenn überhaupt. Also entschied sich das Orchester, Farbe zu bekennen und das Jüdische in den Namen aufzunehmen. Nur die wenigsten Orchestermitglieder sind Juden.

Sie wollen die Komponisten nicht nur als Opfer wahrnehmen

Grossmann geht es nicht in erster Linie darum, die Tradition aus den 30er Jahren wiederzubeleben. Der gebürtige Münchner vermisst heute jüdische Kultur im öffentlichen Raum. Und die ist Programm bei dem Ensemble: Mal geht es um jüdische Trauerrituale, mal um synagogale Musik oder die Emigration von Jüdinnen und Juden nach Schanghai während des Holocausts.

Natürlich spielt das Kammerorchester auch die verfemten Komponisten. Allerdings ist es Grossmann wichtig, sie nicht nur als Opfer des Nationalsozialismus zu sehen: „Erwin Schulhoff war zwar genial, aber er ist schlecht mit Frauen umgegangen. Darüber muss man auch reden.“

Mit der Reduzierung auf den NS-Zusammenhang würde man den Komponisten nicht gerecht. Deshalb haben sich die Münchner nicht der Erinnerungskultur verschrieben wie die Hamburger Kollegen, sondern sie wollen gegenwärtige jüdische Kultur präsentieren. In diesem Jahr steht neben einem Festkonzert im Rahmen des Programms „1700 Jahre jüdisches Leben“ wieder eine Synagogentournee auf dem Kalender: Mit extrem reduzierter Besetzung spielt man in kleinen Synagogen, um die jüdische Musik in die bayrischen Dörfer zurückzubringen.

Gegenwart statt Vergangenheit. Die unterschiedliche Ausrichtung der Kammerorchester in München und Hamburg steht für die Vielfalt der heutigen jüdischen Kultur und Identität in Deutschland. Und für die Bandbreite der Möglichkeiten, jüdische Existenz sichtbar zu machen. Vielleicht ist Musik, diese individuelle und universale Kunst, eines der besten Mittel dafür.

Sophie Emilie Beha

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