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Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, hier eine Aufnahme aus dem Jahr 2008. Er starb 2013

© Patrick Seeger/dpa

"Stimmen" von Wolfgang Herrndorf: Es gibt nur die Kunst und den Mist

Texte, die bleiben, Geschichten, die unbedingt gelesen werden sollten: Wolfgang Herrndorfs nachgelassener Erzählband „Stimmen“

Als der Rowohlt Verlag im Sommer ankündigte, ein weiteres Buch aus dem Nachlass von Wolfgang Herrndorf zu veröffentlichen, war man skeptisch und fragte sich: Ist das wirklich nötig? Und halt nicht mehr als eine sentimentale Erinnerung an diesen vor ziemlich genau fünf Jahren viel zu früh verstorbenen Autor. Doch allein die erste Geschichte in diesem Band zerstreut alle Zweifel. Herrndorf erzählt darin von seiner ersten Freundin Katharina Rage, da war er fünf Jahre alt, erinnert sich an einen Nachmittag mit dieser in einem Kornfeld und wie beide in einem Puppenstuben-Blechherd ein Feuer entfachten und sich daran verbrannten. Und er erzählt dann auch von den anderen Lieben seiner Schulzeit, „mit keinem dieser Mädchen habe ich mehr als drei Sätze geredet“ und wie er später im Netz nach ihnen und anderen Mitschülern gesucht hat, ohne dabei – glücklicherweise – viel Erfolg zu haben.

Die Geschichte umfasst praktisch ein ganzes, bis in die Erwachsenenzeit reichendes und, wie es scheint, nicht besonders glücklich verlaufendes Liebesleben. Sie ist ein tief blicken lassendes Psychogramm des Ich-Erzählers auf nur wenigen Seiten, in dem jeder Satz wohl platziert ist – und sie hat einen perfekten Schluss, so perfekt, wie der Tag mit Katharina Rage im Kornfeld war, bevor sie sich die Hand verbrannten. Man könnte auch sagen: eine perfekte Kurzgeschichte. Herrndorf hat diese 2008 in dem Internetforum „Wir höflichen Paparazzi“ veröffentlicht, also kurz bevor er zum umjubelten „Tschick“–Autor werden sollte. „Stimmen“ heißt dieser nachgelassene Band, so wie eines der Pseudonyme, die Herrndorf bei den Höflichen Paparazzi benutzte, und der größte Teil der hier versammelten Geschichten stammt dann auch von hier, Herrndorf schrieb sie in den Jahren 2001 bis 2009.

Humor und Fatalismus, Sentimentalität und Lakonie

Dazu kommen ein paar das eigene Schreiben und die Literaturkritik reflektierende Einträge und Texte, wie man sie aus seinem Blog „Arbeit und Struktur“ kennt, Gedichte und ein Dramolett, das Herrndorf schon unter dem Eindruck seiner Hirntumordiagnose geschrieben hat, es trägt den bezeichnenden Titel „Alkalkulie“. Insgesamt versammelt dieses, wie es heißt, allerletzte Herrndorf-Buch „Texte, die bleiben sollten“, so der Untertitel, Texte jedenfalls, die nicht den diversen Lösch- und Vernichtungsaktionen des Schriftstellers in den Jahren vor seinem Tod zum Opfer gefallen sind.
Mögen die Gedichte und auch das einem Medien-Quiz von irgendeinem sinistren Fernsehkanal nachempfundene Dramolett eher dokumentarischen Charakter haben, so demonstrieren insbesondere die Geschichten, was für ein großartiger Erzähler Herrndorf war. Wie er damit zu unterhalten versteht und die Erzählungen sich trotzdem eine literarische Hintergründigkeit bewahren.

Gekennzeichnet sind sie durch die Herrndorf-typische Mischung aus Humor und Fatalismus, aus Sentimentalität und Lakonie. Natürlich hat man bei der Lektüre, nicht zuletzt weil Herrndorf hier stets aus der Ich-Perspektive erzählt, den Autor selbst vor Augen; sein manchmal sehr leidenschaftliches Danebenstehen, sein sympathisches, bisweilen sicher kultiviertes Verpeiltsein, aber auch gewisse Unsicherheiten bezüglich des eigenen Schreibens. Nicht ohne Grund lautet ein apodiktischer Satz aus dem poetologischen Teil dieses Bandes: „Falls ich jemals etwas Anderes als reine Fiktion schreiben sollte, dann erschießen sie mich bitte“.

In den nuller Jahren hatte sich Herrndorf in immer neuen Material verloren

Mit „Tschick“ und mit „Sand“ hat er sich daran gehalten. Im Fall von „Stimmen“ wiederum spielt keine entscheidende Rolle, ob Wolfgang Herrndorf wirklich einmal mit zwei „Titanic“-Redakteuren in Frankfurt erst in diversen Striptease-Bars und später einem Bordell war. Ob er sich nach einer Party in Rahnsdorf danach tatsächlich im Wald verfahren hatte. Oder er sich wirklich einst den gelben Wartburg von Joachim Lottmannschnappte, um damit aus einer bestimmten Verzweiflung heraus (Fernseher kaputt, keine Freunde, drei Uhr nachmittags) eine Reise ins Umland zu machen: „Ich öffnete die Fahrertür, sie war nicht abgeschlossen. Das war mir vorher klar gewesen, dass Lottmann sein Auto nicht abschloss. Auch wieder so ein Trick, um sich wichtig zu machen, er kriegte trotzdem keine Frauen.“ Autofiktion ist halt auch eine Form von Fiktion.

Herrndorf hat in diesen Jahren unwahrscheinlich viel geschrieben, aber, Perfektionist, der er war, wenig veröffentlicht, und sich eben auch mit mehreren Romanen „in immer neuen Material verloren, im jugendlichen Bewusstsein, noch ewig zu leben“, wie er in „Arbeit und Struktur“ bekannte. „Stimmen“ beschwört vor allem noch einmal die Atmosphäre seines Debüt- und späten Popromans „In Plüschgewittern“ von 2002 und seiner fünf Jahre später veröffentlichten Erzählsammlung „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“. Da gibt es zum einen die Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend, zum anderen das Driften in Berlin und Umgebung inklusive stets neuer seltsamer Begegnungen. So die mit einer dementen Frau an einer Bushaltestelle, bei der der Erzähler und ein „Goldkettchen-Türke“ darum wetteifern, ihr zu helfen. Oder die mit einem Mädchen, das an Herrndorfs Tür klingelt und darum bittet, seine Toilette benutzen zu dürfen – und diese in schlimmster Weise hinterlässt.

Wie steht es hier an anderer Stelle, abermals apodiktisch, großspurig, auch wütend: „Es gibt keine guten Gattungen, es gibt keine großen Würfe, es gibt keine Zeitforderungen, es gibt nur die Kunst und den Mist.“ Man muss nicht betonen, was dieser Band nun ist, darf jedoch anfügen: Kunstreligiös war Herrndorf ganz sicher auch nicht.

Wolfgang Herrndorf: Stimmen. Texte, die bleiben sollten. Rowohlt Berlin, Berlin 2018. 192 Seiten, 18 €.

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