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Schmerzensmann. Der große norwegische Erzähler Stig Sæterbakken (1966–2012).

© Jo Michael

Stig Sæterbakkens letzter Roman: Eine so beklemmende wie faszinierende Lektüre

Kurz nach der Veröffentlichung von „Durch die Nacht“ nahm sich Autor Stig Sæterbakken das Leben. Für seinen Erzähler ist bereits aller Sinn am Leben erloschen.

„Trauer tritt in so vielen Formen auf“, lautet der erste Satz dieses Buches. Er klingt nach Ratgeberprosa. Aber bald spürt man: Wenn jemand je zum Ratgeber völlig untauglich war, dann die schwermütige Hauptfigur dieses Romans.

Er erschien im Original 2011; einige Monate später nahm sich der Autor Stig Sæterbakken im Alter von 46 Jahren das Leben. Sein Ich-Erzähler Karl Meyer hat bereits einen Blick auf das Leben, in dem aller Sinn erloschen ist.

Eine Ironie besteht darin, dass Meyer, dieser Norweger des Schmerzes, als Zahnarzt auch Schmerzspezialist von Beruf ist. Allerdings sind Zahnärzte Feinmechaniker, die kein Pathos, sondern eine ruhige, nüchterne Hand brauchen.

Man würde sich deshalb von Dr. Meyer lieber nicht behandeln lassen. Aber tatsächlich hat er allen Grund zur Verzweiflung: Sein 17-jähriger Sohn Ole-Jakob hat Selbstmord begangen. Er ist mit dem Auto frontal gegen einen entgegenkommenden Lastwagen gerast.

Sæterbakken ist ein Meister der Ernüchterung

Zu Meyers Trauer kommen Schuldgefühle. Er hat das Gefühl, dass der Sohn ihm mit seiner Tat die Höchststrafe erteilen wollte. Seine Verfehlung war es, die Familie zeitweise zu verlassen, wegen einer Geliebten, halb so alt wie die eigene Frau.

Das vorgelagerte Ehedrama wird in Rückblenden erzählt. Der mittelalte Zahnarzt und die junge CD-Verkäuferin Mona – man muss kein Diplom in Menschenkenntnis haben, um dieser Leidenschaft das Scheitern vorauszusagen.

[Stig Sæterbakken: „Durch die Nacht“, Roman. Aus dem Norwegischen von Karl-Ludwig Wetzig. DuMont Buchverlag, Köln 2019. 287 Seiten, 22 €.]

Es dauert nicht lange, und Meyer sieht in Mona nur noch eine egozentrische Person, nach Shampoo duftend und hauptsächlich mit ihrem Telefon beschäftigt. Während sie endlos mit Freunden plappert, zieht er ein Buch aus ihrem Regal und liest die Widmung darin: „Für mein Schmusekätzchen. Love Martin.“ Er steht auf und verlässt Monas Wohnung.

In diesen Szenen erweist sich Sæterbakken als Meister der Ernüchterung. Reumütig zieht Meyer wieder bei seiner Familie ein, als geduldeter Mitbewohner, auf den seine Frau Eva und die beiden Kinder herabsehen. Er nimmt es hin, dass Eva das Schlafzimmer nicht mehr mit ihm teilen will, und versucht sich den Zustand schönzudenken: „die Liebe heruntergebrochen zu einer ehrlichen, respektablen Arbeitsgemeinschaft.“

Eine groteske Skulptur der Trauer

Dieser Roman erinnert daran, dass für viele Kinder immer noch eine Welt zusammenbricht, wenn die Ehe der Eltern scheitert. Ole-Jakob lädt der „Verrat“ des Vaters auf mit Negativität; allen Wiedergutmachungsbemühungen zeigt er die kalte Schulter. Er wird süchtig nach Horrorfilmen, bevor er seine eigenen inszeniert.

Im Leichenschauhaus blickt Karl Meyer auf ein zerrissenes Etwas mit explodierten Augen. Sæterbakken findet für solche unfassbar schmerzvollen Momente Formulierungen von prägnanter Bitternis. Nicht weniger eindringlich schildert er leisere Erschütterungen, wie Karls Unfähigkeit, sich die Jugendfotos des Sohnes anzusehen, die ihm nur noch wie Karikaturen vorkommen.

Seine Frau Eva hält Strenge und Prinzipienfestigkeit hoch. Während Karls Affäre schweigt sie überlegen, als wäre sein Vergehen jenseits des Diskutablen und als wollte sie ihm um keinen Preis die Chance eines Wutanfalls geben, den er zur Verteidigung nutzen könnte.

Auch in der Trauer bleibt sie die „Effizienz in Person“. Nur ab und an bricht ihr Panzer auf. Einmal zertrümmert sie mit der Axt den Fernseher; ein andermal kollabiert sie tränenüberströmt beim Staubsaugen, hält das Rohr des Saugers dabei fest umklammert, sodass Karl ihre Finger kaum lösen kann: eine groteske Skulptur der Trauer.

Nachtschwarzer Realismus und ein phantasmagorischer Existenzialismus

„Die Welt verhöhnte uns“ – einfach dadurch, dass draußen alles weitergeht wie bisher. Karl hält es nicht länger aus. Ein zweites Mal verlässt er die Familie, löscht auf dem Handy alle Kontakte außer der Nummer von Ole-Jakob und macht sich auf eine Reise ins Ungewisse, die nur ein Ziel hat: dem Sohn irgendwie wieder näherzukommen, zu verstehen, warum sich jemand zerschmettern lässt, und ihm vielleicht nachzufolgen im Furor der Selbstzerstörung.

Die Konturen der Wirklichkeit beginnen sich aufzulösen. Karl hat Begegnungen, denen etwas Surreales anhaftet, etwa mit einer vermeintlichen Selbstmörderin, die er vor dem Sprung von einer Brücke zu retten versucht. Sie entpuppt sich als Gewässer-Fotografin, und dank Karls beherztem Eingreifen ist ihre teure Kamera ins Wasser gefallen. Wieder hat er etwas gutzumachen.

Seine eigentliche Obsession ist ein mysteriöses „Haus der Angst“, irgendwo in der Slowakei: Wer sich darin einschließen lasse, könne seinen tiefsten Ängsten und Sehnsüchten begegnen und wieder zu sich selbst finden. Oder sich verlieren, wie jener „knallharte“ Banker, von dem es heißt, dass er nach einer Woche im Horror-Haus nur noch ein sabberndes Bündel gewesen sei, das seine Ausscheidungen nicht mehr beherrschen konnte.

Schließlich gelingt es Karl, gegen erhebliche Vorkasse den Schlüssel zu dem Haus in die Hand zu bekommen. Die Prüfungen, die dann durchzustehen sind, haben wenig zu tun mit dem konfektionierten Grauen von Horrorfilmen. Die Angst gründet in exakt beschriebenen, scheinbar unscheinbaren Details.

Stig Sæterbakken findet in seinem letzten Roman suggestive Bilder für Grenzzustände der Verzweiflung, Schuld und Trauer. Nachtschwarzer Realismus und ein phantasmagorischer Existenzialismus verbinden sich zu einer so beklemmenden wie faszinierenden Lektüre. Das Pathos mag gelegentlich dick aufgetragen sein, aber hohl tönt es nie. Zu guter Letzt klingelt Karls Handy. Ole-Jakob meldet sich; endlich. In einer traumhaft schönen Weihnachtswelt ist die Familie wieder beisammen.

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