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Stille Desillusion. Die duldsame Jeanne (Judith Chemla) wird zum Spielball ihrer Gefühle.

© Film Kino Text

Stéphane Brizés Film „Ein Leben“: Im Strom der Erinnerungen

Sommerliches Glück und herbstliche Bitternis: Stéphane Brizés kitschfreier Kostümfilm „Ein Leben“ erzählt die Tragödie einer passiven Frau.

Wie schleicht sich das Unglück ins Leben? Wie kann es geschehen, dass eine arglose, liebende Seele schließlich gar auf einer duftenden Sommerwiese vor der Leiche ihres von einem eifersüchtigen Ehemann erschossenen Mannes steht? Ist die Duldsamkeit der Frau der Grund für den an ihr ein ums andere Mal meist von Männern begangenen Verrat?

Nicht dass der französische Regisseur Stéphane Brizé darauf in „Ein Leben“ Antworten gibt. Deswegen ist die tragische Studie einer Passiven in einer offen freundlichen, aber verdeckt feindlichen Welt auch so schwer auszuhalten. Doch die Fragen, die sich aus dem elliptisch erzählten, 27 Lebensjahre umfassenden Strom von Erinnerungen schälen, weisen über Zeit, Ort und Schicksal hinaus.

Sie beginnen in der Normandie des Jahres 1819, wo die zwanzigjährige Landadelige Jeanne nach einer Ausbildung im Konvent wieder bei den Eltern lebt. Baron und Baronin sind sanftmütig, mehr am Garten als an gesellschaftlicher Repräsentation interessiert. Ungewöhnlich genug, soll Jeannes zukünftiger Mann zwar von Stand sein, aber ihr vor allem auch in Liebe zugetan. Und als sich die anmutige Brünette (Judith Chemla) für den charmanten Viscount Julien (Swann Arlaud) erwärmt, stört dessen mangelndes Vermögen niemanden.

Die Protagonistin führt eine eingeschachtelte Existenz

Jeanne und Julien heiraten. Der selbst gesäte Keim des Unglücks ist gelegt. Und obwohl in der beklemmend gefilmten Hochzeitsnacht ob des körperlichen Akts noch Widerwillen in Jeannes Gesichtszügen steht, entwickelt sich ein zärtliches Einvernehmen. Zumindest aus der Sicht der Frau. Deren Gefühlsleben und Wahrnehmungshorizont erzählt „Ein Leben“. Mit einer Handkamera (Antoine Héberlé), die der Protagonistin stets dicht- auf folgt, durch die ineinander verwobenen Lebensphasen sommerlichen Glücks und herbstlicher Bitternis. Und besonders mit dem sinnfällig eingesetzten, fast quadratischen Academy-Format, das nur den Ausschnitt von Jeannes Welt zeigt, den sie erfährt. Eine eingeschachtelte Existenz also, in der sich trotz aller Annehmlichkeiten eines zuerst nur dem Müßiggang und später der Mutterschaft gewidmeten, letztlich unmündigen Daseins immer wieder Abgründe auftun. Der stille Kampf gegen die durch diese Doppelbödigkeiten erzwungene Desillusionierung gräbt sich immer tiefer in Jeannes Gesicht. Dass erst der Mann, später der Sohn und auch ein Priester die „Tochter des Lichts“ instrumentalisieren, argwöhnt sie nicht.

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Umso brutaler fällt der erste Absturz aus. Jeanne erwischt Julien – im Off – mit dem Dienstmädchen Rosalie und stürzt kopflos hinaus in die Nacht. In einer der wenigen Totalen sind die Eheleute als von oben gefilmte weiße Schemen zu erkennen, die in diesem schwarzen Ozean der Finsternis miteinander ringen. Rosalie ist Jeannes einzige Freundin. Und wie die Enttäuschte erst viel später begreifen wird, bleibt sie es auch lebenslang.

In seiner Absage an die dekorative Kuscheligkeit von Landadelsromanzen, wie man sie aus den Jane-Austen-Verfilmungen der Neunziger kennt, ähnelt Stéphane Brizés Adaption des 1894 erschienenen Romanerstlings von Guy de Maupassant dem Kostümdrama „Lady Macbeth“ des britischen Theaterregisseurs William Oldroyd.

Vom Vergehen der Zeit und der Begrenztheit menschlicher Gefühle

Wo der in einem puristischen Kammerspiel-Setting das wütende Aufbegehren einer Frau des 19. Jahrhunderts beschreibt, erzählt Brizé nun in leuchtenden Gärten und an stürmischen Gestaden vom Verstummen einer Aufrechten. Doch obwohl auch Jeanne Spielregeln verweigert, ist „Ein Leben“ weniger deutlich als Gesellschaftsstudie einer Frau ihrer Zeit angelegt. Das Genre Sozialdrama hat der Regisseur mit „Der Wert des Menschen“, der in Cannes 2015 einen Darstellerpreis gewann, bereits im Vorgängerfilm hinreichend beackert.

Umspült von den melancholischen Klängen eines Pianofortes erzählt „Ein Leben“ vielmehr vom Vergehen der Zeit und der Begrenztheit menschlicher Gefühle und Einsichten. Und in einem wenig versöhnlichen, in dem Satz „Das Leben ist nie so gut oder so schlecht, wie man glaubt“ gipfelnden Twist auch davon, dass Glück selbst im größten Unglück wohnt.

In sechs Kinos, OmU: Fsk, Hackesche Höfe, Zukunft, Cinema Paris

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