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Ungemein intelligent und hemmunglos unterhaltsam. Der Schriftsteller Steffen Kopetzky, 1971 in Pfaffenhofen geboren.

© Marijan Murat

Steffen Kopetzky: Roman "Risiko": Das große Kriegsspiel

Der Erste Weltkrieg war tatsächlich ein Weltkrieg und fand auch in der Türkei und in Afghanistan statt: Steffen Kopetzkys lehrreicher und unterhaltsamer Abenteuerroman „Risiko“.

Wer in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts geboren und sozialisiert wurde, dürfte, wenn er nicht vollkommen weltfremd aufgewachsen ist, an dem Brettspiel „Risiko“ kaum vorbeigekommen sein. Jenes Strategiespiel, in dem farbige Steinchen die Armeen des jeweiligen Spielers symbolisieren und dessen Gewinnziel letztendlich in der Eroberung der gesamten Welt besteht, ist ein nicht unwichtiges Element in Steffen Kopetzkys neuem, mehr als 700 Seiten umfassenden Roman. Zum einen liefert das Spiel dem Buch seinen Namen, zum anderen gibt es im Roman eine Gruppe von Militärs, die tatsächlich „Risiko“ spielt und auf diese Weise auch dafür steht, welche unterschiedlichen Blickachsen man auf einen Krieg haben kann: Für diejenigen, die ihn planen, ist er ein Strategiespiel. Für diejenigen, die ihn ausführen, ein Kampf um Leben und Tod.

Und noch eine ungewöhnliche Perspektive eröffnet „Risiko“, der Roman: Der europäische Betrachter kennt den Ersten Weltkrieg als den Großen Krieg, der sich zumeist auf die Schlachtfelder des Westens beschränkt; Verdun, die Schlacht an der Marne, der Stellungs- und Grabenkrieg. Steffen Kopetzky hat (unter anderem) einen Roman über den Ersten Weltkrieg geschrieben, der den Blick weitet und tatsächlich erst deutlich macht, dass der Weltkrieg ein Weltkrieg war.

Der Dschihad ist eine deutsche Erfindung

Er nimmt uns mit auf eine deutsche Expedition, die, geplant vom Kölner Orientexperten Max Freiherr von Oppenheim und angeführt vom bayerischen Oberleutnant Oskar von Niedermayer, von Istanbul aus quer durch Persien, durch Wüsten und über Gebirge, nach Afghanistan führt. In ein Land, das zuvor noch nie ein Deutscher betreten hat und das, das ist das Frappierende, schon seit mehr als hundert Jahren von enormer geostrategischer Bedeutung ist.

Einer der Expeditionsteilnehmer ist der Held des Romans: Funkobermaat Sebastian Stichnote liegt bei Ausbruch des Krieges mit seinem Schiff, der SMS Breslau, vor der albanischen Küste. Stichnote ist ein hochbegabter Techniker und ein intelligenter und wacher Beobachter dazu. Er wird zunächst zum Freund und Vertrauten von Wachoffizier Karl Dönitz, der ihn einführt in das, was man nur raunend „Das große Spiel“ nennt: „Risiko“. Nach einer abenteuerlichen Flucht vor der englischen Marine (und, nach einem Vorfall in Albanien, auch vor den unbequemen Fragen der Polizei), landet Stichnote in Istanbul, wo er der Niedermayer'schen Afghanistan-Expedition als Funker zugeteilt wird. Das erklärte und von Oppenheim ausgetüftelte Ziel der Reise ist es, die politisch zersprengten und in unzählige Gruppierungen zerfallenen Einheimischen in einem Dschihad, in einem heiligen Krieg gegen die Engländer zu vereinen und den deutschen Kriegsgegner so an mehreren Fronten gleichzeitig aufzureiben. Anders ausgedrückt und überspitzt gesagt: Der Dschihad ist eine deutsche Erfindung. Zumindest war es der deutsche Plan, das islamische Radikalisierungspotential zu nutzen und die Lunte, die in Afghanistan historisch gelegt war, zu zünden.

Steffen Kopetzkys Roman funktioniert wie ein Spiegel, der politisch-strategische Überlegungen des frühen 20. Jahrhunderts in die Wirklichkeit des frühen 21. Jahrhunderts zurückwirft. Man lernt, und das ist kein Vorwurf, sondern ein großes Kompliment, eine ganze Menge in „Risiko“, und das mit großem Vergnügen. Und auch im Detail: von der Erfindung des Heroins oder der Coca Cola bis hin zu einer zeitgenössischen Interpretation der „Biene Maja“.

Steffen Kopetzky formt seinen ausgezeichnet recherchierten Stoff literarisch elegant um

Steffen Kopetzky betet seinen ausgezeichnet recherchierten Stoff nicht brav herunter, sondern formt ihn literarisch elegant um. Sebastian Stichnote ist ein Leser, und seine Lektüren bilden einen Echoraum, in dem die Leitmotive des Romans in unterschiedlicher Lautstärke wiederkehren. Ein Beispiel: Mehrfach ist im Roman die Rede von Kurd Laßwitz' Science-Fiction-Roman „Auf zwei Planeten“ die Rede; gleichzeitig ist im Roman "Risiko" selbst das Problem der Versorgung mit Energie und Rohstoffen elementar und schlägt wiederum eine Brücke in die von Kämpfen um Ressourcen gezeichnete Jetztzeit.

Steffen Kopetzky betreibt Geschichtsschreibung und Kulturgeschichtsschreibung zugleich; er setzt ironische Referenzpunkte zu den Abenteuererzählungen eines Karl May und inszeniert dabei zugleich selbst einen Abenteuerroman mit allen Schikanen: Es gibt eine Liebesgeschichte zwischen Stichnote und einer Schönheit mit höchst eifersüchtigen Brüdern; es gibt Agenten und Doppelagenten, Spione, Folterungen, Morde, Grausamkeiten und überraschende Wendungen; es gibt einen schwulen Schweizer Journalisten, der aus Verliebtheit zum Islam konvertiert und einen überzeugten Sozialisten, der zum Waffenhändler wird. Hinter alldem offenbaren sich die Logik und die Mechanik eines Krieges: Es geht nicht um Haltungen, um Überzeugungen und Ideologien. Letztendlich geht es um nackte territoriale Interessen, um sonst nichts.

„Risiko“ beginnt mit einem Cliffhanger; der Prolog setzt kurz vor dem Ende der Erzählung ein. Über siebenhundert Seiten lässt sich dann staunend verfolgen, wie es bis dorthin kommen konnte. Und ganz zum Schluss hat Steffen Kopetzky sich gestattet, das Ende des Ersten Weltkrieges nicht nur ein wenig, sondern ganz gewaltig umzuschreiben. Das ist die Freiheit der Literatur, die in diesem Roman ihr utopisches Potential entfaltet. Ein deutschsprachiger Geschichts- und Abenteuerroman, ungemein intelligent und klug verzahnt mit der Gegenwart, geradezu hemmungslos unterhaltsam und spannend noch dazu. Wann findet man so etwas schon einmal?

Steffen Kopetzky: Risiko. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015.732 Seiten, 24,95 €.

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