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Stefan Moses porträtierte die Lyrikerin Sarah Kirsch nach ihrer Übersiedlung aus der DDR 1977 auf einem Berliner S-Bahnsteig.

© Stefan Moses, Elisabeth Sandmann Verlag

Stefan Moses' Bildband „Die Zeit der Frauen“: Spotlight für Legenden

Der große Fotograf und Holocaust-Überlebende Stefan Moses ist in dem Bildband „Die Zeit der Frauen“ noch einmal neu zu entdecken.

Plötzlich kommt er mit einem neuen Prachtband posthum wieder sehr emphatisch zurück. Der Anfang Februar vor vier Jahren mit fast neunzig verstorbene Fotokünstler Stefan Moses war zu Lebzeiten schon eine Legende. Doch gerade Legenden sind in der Echt- und Jetztzeitkultur auch vom Entrücktsein und umso schnelleren Vergessen bedroht.

„Stefan Moses: Die Zeit der Frauen“ heißt der Bildband, den Christoph Stölzl herausgegeben und kundig kommentiert hat. Das Buch ist mit seinem so aktuell wie beinahe mythisch klingenden Titel ein Wink aus der jüngeren Vergangenheit.

Denn schon das Titelfoto zeigt mit der im leichten Sommerkleid doch ungemein ernst, versonnen, träumerisch uns aus dunklen Augen anschauenden italienischen Filmschauspielerin Anna Magnani gleichfalls eine Legende des letzten Jahrhunderts. Eine Ikone, die bei aller Präsenz im Ausdruck wohl Lichtjahre von vielen gegenwärtigen Stars oder Sternchen entfernt zu sein scheint. In dem Bild liegt ein wehmütiger Zauber, gleich zu Anfang.

Porträts von „Deutschlands Emigranten“

Moses war einer der künstlerisch Inspirierten hinter der Kamera. Früh bekannt geworden als Bildreporter für den „Stern“ in den 1950er Jahren, ist der Magnum-Fotograf erst so richtig berühmt geworden durch seine in Büchern und Ausstellungen manifestierten Porträtserien.

So hielt Moses die Lebensspuren in den Gesichtern von über 150 ehemals Vertriebenen, Geflüchteten für die Nachwelt fest, unter dem Signum „Deutschlands Emigranten“: Ernst Bloch, Theodor W. Adorno, Meret Oppenheim, Therese Giehse, Elisabeth Bergner, Willy Brandt, Fritz Korner oder Sebastian Haffner. Alle schwarzweiß, doch voller Farben. Die Sammlung besitzt heute das im Aufbau befindliche Exil Museum in Berlin.

Die Düsseldorfer Kunstsammlerin Gabriele Henkel (1931-2017), fotografiert von Stefan Moses.
Die Düsseldorfer Kunstsammlerin Gabriele Henkel (1931-2017), fotografiert von Stefan Moses.

© Stefan Moses, Elisabeth Sandmann Verlag

Als jüdisches Schulkind aus Niederschlesien wurde er im Zweiten Weltkrieg selbst verfolgt, in ein Lager verschleppt. Stefan Moses, der dann nur knapp dem Holocaust entging, ist nach Anfängen in Breslau und Weimar und später mit Wohnsitz in München über seine Reportertätigkeit hinaus zum Nachfolger des großen August Sander geworden.

Mit seiner Galerie „Menschen des 20. Jahrhunderts“ hatte Sander vor hundert Jahren in seinen Abbildern der „deutschen Stände“ von der Fabrikarbeiterin bis zum Aristokraten, von Bauern und „fahrendem Volk“ bis zu Dichtern und Ministern so etwas wie die fotografische Soziologie in Deutschland begründet.

Metzger, Schlosser, Schaffnerinnen

Vor und nach der Wende hat Moses diese lange vergessene, sonst nur in den USA von Richard Avedon fortgesetzte Tradition wieder aufgenommen. In stilistischer Anspielung auf Sanders Vorbilder, also meist im Studio und jeweils vor einem Streifen weißer Leinwand, porträtierte (und inszenierte) er oft heiter und optimistisch, eher selten mit skeptischem Blick Lehrlinge, Fabrikarbeiterinnen, Metzger, Schlosser, Schaffnerinnen und viele mehr als Gesichter des neu vereinten und doch nicht immer einigen Deutschlands. Auffallend schon hier, dass die Frauen besonders energievoll wirkten. Hoffnung verkörperten.

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Vielleicht hat auch dieser Eindruck den Herausgeber Christoph Stölzl animiert, den Band „Zeit der Frauen“ zusammenzustellen. Stölzl war mit dem Fotografen befreundet und hatte ihn in seiner Zeit als Direktor des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin animiert zu dem Projekt „Abschied und Anfang. Ostdeutsche Porträts 1989-1990“. Als Buch und gleichnamige Ausstellung wurden die Bilder ab Anfang 1992 im DHM präsentiert. Einige Motive daraus kehren nun wieder.

Bilder, mit denen sich Geschichte erzählen lässt

Aber das Hauptaugenmerk liegt auf den Gesichtern und Gestalten der Schauspielerinnen, Autorinnen, Künstlerinnen, denen Moses in seinem langen Leben begegnet ist. Ein paar Fotos werden dabei auch aus der berühmten Serie „Die Großen Alten im Wald“ zitiert: ein über Jahrzehnte verfolgtes Projekt, bei dem Moses Jahrhundertfiguren von Ernst Jünger bis Willy Brandt in die Symbollandschaft des deutschen Walds gestellt hat. Eine raffinierte Mischung aus Pathos und Ironie.

So sehen wir die Diva Lil Dagover, die auch bei den Nazis weiter filmte, wie die jüdische Autorin und heimgekehrte Emigrantin Hilde Spiel, die Publizistin Marion Gräfin Dönhoff oder Mathilde „Quappi“ Beckmann, die Witwe des einst als „entartet“ verfemten Malers Max Beckmann, alle unter Bäumen. Die Diva allürenhaft lachend, die Dichterin mit sehr melancholischem Blick. Es sind Bilder, die für sich schon ein Stück deutscher Geschichte erzählen.

Schauspielerin Senta Berger, fotografiert von Stefan Moses.
Schauspielerin Senta Berger, fotografiert von Stefan Moses.

© Stefan Moses, Elisabeth Sandmann Verlag

Ganz unabhängig von historischen Hintergründen und zugleich fern aller glamourösen Starfotografie lassen sich viele Porträts hier auch einfach genießen. Der strahlende Charme etwa der jungen Senta Berger oder der kaum der Uni entsprungenen Buchhändlerin und modernen Salonière Rachel Salamander, die Altersschönheit der Schriftstellerin Grete Weil oder der Schauspielerin Marianne Hoppe haben wie die fabelhaft lebendigen Bilder von Anna Magnani und der Fellini-Muse Giulietta Masina die Anmutung von Klassikern.

Jeder Augenblick ein Moment Ewigkeit. Auch wenn Stefan Moses in einem Lächeln die Schwermut von Ingeborg Bachmann begreift. Oder wenn Romy Schneider 1955, noch ganz im Sissyflair, auf gepackten Koffern sitzt, aber man hinter der mädchenhaften Naivität den späteren Weg ins französische Weltkino zumindest ahnen kann.

Christoph Stölzl gibt den Band heraus

In die Welt bricht auch die große Lyrikerin Sarah Kirsch auf, die nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1977 von Ost- nach West-Berlin übersiedelt. Die Pointe einer Fotoserie aus diesem persönlichen Wendejahr ist, dass Moses die Dichterin sehr kess in Lederstiefeln und Lammfellmantel wie eine Westernheldin auf dem Berliner S-Bahnsteig in ein tatsächlich neues Licht setzt.

Christoph Stölzl schreibt in seiner Einleitung zur „Zeit der Frauen“, die „Methode Moses“ liege in seiner „Menschenliebe“, in einer „weder den Blitzlichtüberfall noch das überlistende Teleobjektiv“ suchenden „Zärtlichkeit“.

Gleichzeitig deutet Stölzl an, dass es bei der Münchner Familie des Fotografen noch eine nie veröffentlichte Fülle von Notizen, Skizzen und Sammlerstücken von Stefan Moses gibt. Nur der größte Teil des fotografischen Nachlasses wird bisher im Deutschen Kunstarchiv des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg verwahrt. So birgt der Mythos Moses noch künftige Überraschungen.

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