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Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin, Influencerin. Berit Glanz, 1982 im schleswig-holsteinischen Preetz geboren.

© privat

Startup-Roman „Pixeltänzer“: Menschens-Tinder

Zerrissen zwischen analog und digital: Berit Glanz begibt sich mit ihrem Debütroman „Pixeltänzer“ in die Welt der Start-ups.

Beta-Version, so nennt man ein Programm, das fast, aber eben noch nicht ganz fertig ist. Die Icherzählerin in Berit Glanz’ Romandebüt „Pixeltänzerin“ heißt eigentlich Elisabeth (Schöffling & Co., 256 Seiten, 20 €.). Aber weil sie Programmiererin ist, oder genauer gesagt „Junior-Quality-Assurance-Testerin“, liegt der Spitzname Beta nahe. Umso mehr, als er sich natürlich von den Kollegen in dem Berliner Start-up-Unternehmen, in dem die Protagonistin arbeitet, für immer wieder neue „Beta-Tester-Witze“ ausschlachten lässt.

Zugleich aber ist der Name der Hauptfigur ein Hinweis darauf, dass sie am Ende des Romans eine verbesserte Version ihrer selbst sein wird. Früher nannte man das „Entwicklung“, heute müsste man wohl von einem „Update“ sprechen. Beta 1.0 jedenfalls ist ein sympathischer weiblicher Nerd. In ihrer Freizeit probiert sie sich durch Berliner Eisdielen, fachsimpelt mit ihrem besten Freund Johannes über Games der achtziger Jahre, gönnt sich ab und an via Tinder einen One-Night-Stand und füllt ihre Wohnung mit weißen Insektenfiguren aus ihrem 3D-Drucker.

Im hippen Großraumbüro mit Blick auf die Spree wird der Icherzählerin eine karriereförderliche „Can-Do-Ausstrahlung“ nachgesagt. Dennoch hat sich Beta einen mild-ironischen Blick auf ihre Umwelt bewahrt: auf das anspornende „Whoop, whoop!“, mit dem ihr Chef jeden beendeten Arbeitsauftrag quittiert; auf die in den Gängen herumstreunenden Geldgeber, die mit den gerade angesagten Buzzwords um sich werfen; oder auf die natürlich völlig unverbindlichen Teambuildingaktivitäten am Wochenende.

Aus dem neoliberalen, pseudokreativen Inneren der Multimedia-Werbeagenturen hat bereits Rainer Merkel in seinem 2001 veröffentlichten Roman „Das Jahr der Wunder“ berichtet und Kathrin Röggla 2004 aus dem der Unternehmensberater mit „Wir schlafen nicht“. Nun erzählt Berit Glanz, die 1982 geboren wurde und Literaturwissenschaftlerin sowie Twitterin mit stattlicher Follower-Gemeinde ist, eindrucksvoll aus der Start-up-Szene, der Welt der „Code-Zauberer“ und „Php-Ninjas“. Und zwar passenderweise in der Gegenwartsform und mit Kapitelüberschriften, die Code-Zeilen ähneln, wie zum Beispiel „MOV – Move“, wenn ihre Heldin gerade unterwegs ist.

Es ist eine Arbeitswelt, in der der Druck von oben als lustiger Wettbewerb zwischen Abteilungen maskiert wird und man zum Ausgleich einmal wöchentlich von einem japanischen Sushi-Spezialisten verköstigt wird. „Wir haben keine Aufgaben, wir haben Missionen“, heißt es in den Selbstbeweihräucherungen des Unternehmens. „Es ist egal, woher du kommst oder wie alt du bist, Hauptsache, du lebst und atmest Code und wirst ein Teil des Teams.“

Freie Tänze bei atonaler Musik

Wenig überraschend, gibt es ein Gefühl des Ungenügens und der Leere in Beta. Gemischt mit einer diffusen Sehnsucht „nach analogen Dingen“ und der Lust auszubrechen. Gefüllt wird diese Leere, als sie über eine App einen Mann kennenlernt, der sein Gesicht hinter einer bizarren Maske verbirgt. Von Toboggan, wie er sich nennt, lässt sich Beta auf eine Schnitzeljagd quer durchs Internet und die Zeit schicken, mit rätselhaften alten Kinderfotos oder versteckten Mikro-QR-Codes und Koordinatenangaben. Letztere führen sie unter anderem in die Potsdamer Straße, heute ein Ort gesichtsloser Drogerieläden und Bankfilialen, einst aber die Heimstätte von Herwarth Waldens „Sturmgalerie“. Dort tummelten sich nach dem Ersten Weltkrieg auch Lavinia Schulz und Walter Holdt, zwei expressionistische Künstler, die heute nur noch Insider kennen.

Deren Künstlerkarrieren, die 1924, im Hamburg der Inflationszeit, in einer Ehetragödie tragisch endeten, bekommt Beta von dem Unbekannten nach und nach erzählt, in einer Art Fortsetzungsroman. Heute könnte man die beiden vielleicht als Cosplay-Pioniere bezeichnen; seinerzeit faszinierten die Avantgardisten ihr Publikum durch freie Tänze bei atonaler Musik in grotesken Ganzkörperkostümen. Erst 1988 wurden die heute wahlweise an Fantasyfiguren oder Superhelden wie Ant-Man erinnernden Arbeiten auf dem Dachboden des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe wiederentdeckt – dem Ort, wo Berit Glanz’ Debütroman offen endet.

Die Beschäftigung mit den beiden Maskentänzern, mit ihrem radikalen Kunstanspruch und Protest gegen die bürgerliche Lebenswelt, erweist sich bald schon als ansteckend. Ausbrechen möchte Beta aus dem digitalisierten Hamsterrad ihres Lebens, vielleicht sogar ein wenig Widerstand leisten. Erste Versuche fallen eher kläglich aus: Den nerdigen Roboterfisch aus dem Unternehmensaquarium lässt sie bald schon heimlich in der Spree „frei“, wow. Interessanter ist Betas Präsentation einer „praktisch unverkäuflichen“, absurden App bei einem Wettbewerb („wahrscheinlich haben wir Kunst produziert“), bei dem Berit Glanz auch zwei Wiedergänger der Samwer-Brüder auftreten lässt. Doch fällt die Reaktion der Jury anders aus als erwartet: Sie erkennt nämlich umgehend das Verwertungspotenzial selbst dieses Produkts.

Ein klug konstruiertes, faszinierendes Debüt

Ist Widerstand im digitalisierten, durchkommerzialisierten Jetzt überhaupt noch möglich, zumal mit seinem Überwachungsfuror? Andererseits: Inwiefern haben eigentlich Lavinia Schulz und Walter Holdt gegen das System rebelliert? Sicher ist: Sie haben alles für ihre großartige Kunst geopfert und hatten dabei das Pech, unter ungünstigsten Marktbedingungen zu produzieren. Aber Widerstand? Und wie hätte der überhaupt aussehen sollen? Oder hätte man ihnen einfach nur einen gut dotierten Preis geben müssen, wie sich Beta gegen Ende fragt, und alles wäre gut gewesen?

Dass „Pixeltänzer“ Fragen wie diese stellt oder zumindest nahelegt, macht diesen Roman von Berit Glanz zu einer der interessantesten Neuerscheinungen dieses Bücherherbstes. Zumal Betas wachsende Zerrissenheit zwischen der digitalen und der analogen Welt viele Leser nur zu gut kennen dürften. Lavinias „Leben in einer solchen (analogen) Welt muss ohne ein virtuelles Leben unfassbar viel präsenter gewesen sein, aber auch wahnsinnig eng und begrenzt“, bringt es die Icherzählerin einmal auf den Punkt.

Ein klug konstruiertes, faszinierendes Debüt also – wenn da nur einige formale Schwächen nicht wären, so wie die überraschend betulich gehaltenen Schreiben Betas an den Unbekannten. Darin ist die Icherzählerin kaum wiederzuerkennen, und sie kauen dem Leser die Deutung unnötig vor. Und was Toboggans Roman im Roman angeht, so lebt dieser mehr von der Künstlergeschichte, die darin erzählt wird, als von seinen sprachlichen Qualitäten.

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