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Alle meine Farben. Das Bild „StW 16 014“ von Stanley Whitney aus dem Jahr 2016.

© Niels Borch Jensen Gallery

Stanley Whitney bei Niels Borch Jensen: Ein Stück Documenta in Berlin

Die Berliner Galerie Niels Borch Jensen ist eine Instanz für Druckgrafik. Eine aktuelle Ausstellung zeigt Arbeiten des Documenta-Künstlers Stanley Whitney.

Man stelle sich eine Mischung aus hemdsärmeligem Handwerkermeister und Gentleman alter Schule vor. Wem das als unauflöslicher Widerspruch erscheint, der hat Niels Borch Jensen noch nicht kennengelernt. Seine auffallenden Hosenträger könnten sein Markenzeichen sein. Aber vermutlich hat er daran noch nie einen Gedanken verschwendet. Es mag damit zu tun haben, dass er als Däne lieber bescheiden als auftrumpfend auftritt. Es könnte aber auch an seinem Beruf, seiner Berufung liegen.

Niels Borch Jensen ist für die Druckgrafik, was Gerhard Steidl für die Fotobücher ist. Eine Instanz, ein Maßstab, an dem andere Verleger sich messen. Einer, der weiß, was er kann und andere nicht können, auch die Künstler, die zu ihm kamen und kommen, auch aus Amerika, damit ihnen unter seiner fähigen Anleitung Großes gelinge: Georg Baselitz, Olafur Eliasson, Keith Haring, Per Kirkeby, Martin Kippenberger, Michel Majerus, Julie Mehretu, Albert Oehlen, Rosemarie Trockel.

Mit Stanley Whitney ist der Galerie ein Coup gelungen

Borch hat seine Druckwerkstatt und die, wie er sagt „wirklich sehr kleine“ Galerie „Borchs Butik“ in Kopenhagen, die wirklich sehr klein sein muss, wenn die Berliner Dependance, deren Fläche im Galerienhaus in der Lindenstraße er sich mit der Gallery Taik Persons teilt, der größere Standort sein soll. Borch hat in Berlin auch eine „wirklich sehr kleine“ Wohnung, in der er schläft, wenn er in Berlin weilt wie zuletzt anlässlich des Gallery Weekends. Da ist ihm nämlich ein echter Coup gelungen: Borch kann für sich in Anspruch nehmen, mit Stanley Whitney einen Künstler der aktuellen Documenta auszustellen.

Noch nie gehört? Schon lange haben es sich die jeweiligen Documenta-Leiter bekanntlich zur Aufgabe gemacht, vor allem solche Künstler zu zeigen, die unter dem Radar einer breiteren kunstinteressierten Öffentlichkeit fliegen und auf dem Kunstmarkt keine oder jedenfalls keine irgendwie relevante Rolle spielen. Und Adam Szymczyk dreht das Rad dieser Artist’s Artists und Künstlergeheimtipps in diesem Jahr nur noch ein bisschen weiter. Stanley Whitney dürfte in diesem Umfeld tatsächlich noch zu den Prominenteren zählen.

Der 1946 in Philadelphia geborene, am Kansas City Art Institute und in Yale ausgebildete Künstler ging 1968 nach New York. Es sollte bis 2015 dauern, bis ihm das Studio Museum in Harlem die Einzelschau „Dance the Orange“ ausrichtete. Und Roberta Smith, New Yorks größte Kunstkritikerin, in der „New York Times“ diese Schau ausgesprochen wohlwollend besprach.

Ein Künstler mit einem besonderen Gespür für Farben

Alle meine Farben. Das Bild „StW 16 014“ von Stanley Whitney aus dem Jahr 2016.
Alle meine Farben. Das Bild „StW 16 014“ von Stanley Whitney aus dem Jahr 2016.

© Niels Borch Jensen Gallery

Dass mit leuchtend bunten Farbquadraten bemalte, großformatige Leinwände so viele Jahrzehnte nach Künstlern wie Mark Rothko und Barnett Newman eine Expertin noch faszinieren können, lässt durchaus staunen. Die erste von zwei großen Monotypien (24 000 Euro) in Borchs Berliner Whitney-Schau kommt den von Smith bewunderten, in Athen und Kassel ausgestellten Gemälden recht nahe und macht die Faszination verständlich.

So hat der unermüdliche Stoizismus, mit dem Whitney seine Farbblöcke Notationen gleich aneinanderreiht, stets von links oben nach rechts unten, wohl eher mit der Ausnahmekünstlerin Agnes Martin zu tun als mit den genannten Großmeistern der Farbfeldmalerei. Oder Josef Albers und seiner akkurat-wissenschaftlichen Art, dem Quadrat eine Hommage zu erweisen. Zu diesem Eindruck trägt auch die windschiefe Geometrie des freihändigen Rasters bei, zu dem sich die Farbblöcke zusammensetzen, in das sie sich einfügen – und das bei den Grafiken stärker hervortritt als bei den Gemälden. Richtig spannend wird es dann bei der zweiten großen Monotypie, deren Farben sehr viel heller, pastelliger und durchscheinender wirken. Was daran liegt, erklärt Niels Borch, der Handwerkermeister, dass sie mit Hilfe eines „Ghosts“ hergestellt wurde: mit der auf einer bereits verwendeten Druckplatte verbliebenen Restfarbe. Stanley Whitney hat vor dem Druck lediglich das Raster neu aufgetragen. Verkehrte Welt: Das Handgemachte, das Unperfekte kommt so in der Druckgrafik noch stärker zum Ausdruck als in den von Hand gemalten Gemälden.

Der zweite Blick lohnt sich

Neben den beiden Monotypien gibt es in der Schau acht weitere Grafiken (Edition 18, je 2150 Euro, im Set: 13 500 Euro). Sie sind eine kleine Überraschung bei dem Künstler mit dem besonderen Gespür für die Farben: Es handelt sich um schwarz-weiße Radierungen. Mal tiefschwarz und dicht, mal skizzenhaft und dezent, stets kleinteiliger als die Arbeiten in Farbe. Mal beherrscht das Raster das Bild, mal ist es nur in Kenntnis des übrigen Werks gerade eben zu erahnen. Doch immer lohnt sich für den Betrachter ein zweiter Blick aus einer anderen Distanz. Stanley Whitney bleibt seinem Prinzip in jeder der Radierungen auf andere Weise treu. Was auch an den Varianten der Technik liegt, in die Borch ihn eingewiesen hat: Sugar Lift Aquatint, Open Bite, Soft Ground Etching, Line Etching.

Es spricht für die dienende Kunstfertigkeit des Handwerkermeisters, wenn er den Künstler mit genau den Drucktechniken vertraut macht, die Stanley Whitneys Werk und seinem Kern gemäß sind. Ein Gentleman wie Niels Borch Jensen würde das natürlich nie so von sich sagen. Nicht einmal im Angesicht des wirklich gar nicht so kleinen documenta-Moments, den er Berlin in diesen Wochen beschert.

Stanley Whitney. Niels Borch Jensen, Gallery & Editions, Lindenstr. 34; bis 29.7., Di–Sa 11–18 Uhr

Jens Müller

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