zum Hauptinhalt
Will hoch hinaus: New York. Geht in die Breite: Berlin.

© Stan Honda/AFP, Bernd Settnik/dpa

Stadtentwicklung: Berlin ist wie New York - nur in die Waagerechte gekippt

Eine horizontale Metropole: Die Architektur formt das Zusammenleben in Berlin, bedeutet Zugänglichkeit, aber auch Aushandlung von Differenzen. Ein Städtevergleich.

Walter Benjamin traf einst die berühmte Aussage, dass die Technologie der Eisenbahn des 19. Jahrhunderts – zunächst Eisen, später Stahl – die aufstrebende Architektur moderner Städte mit ihren Wolkenkratzern inspiriert und ermöglicht hat. Eisenbahnschienen wurden zu Stahlträgern und damit eine horizontale Technologie zu einer vertikalen. Der moderne Wolkenkratzer, wie es ihn zum ersten Mal in New York und in architektonischer Hinsicht fast noch interessanter in Chicago gab, wurde nicht nur zum Symbol des Kapitalismus nach 1870, sondern auch zu seinem wortwörtlichen Schauplatz.

In seinem Inneren beheimatete er die Büros, die die neue industrielle Revolution mitsamt ihrer Produkte und Dienstleistungen hervorbrachten und verwalteten. Bei seiner Ankunft in den USA im Januar 1945 fasste Jean-Paul Sartre diese Transformation treffend zusammen, als er New York als die hässlichste Stadt der Welt beschrieb. Horizontal betrachtet, denn vertikal sei sie die schönste.

Zwischen 1870 und 1914 teilten sich New York und Berlin den Status als neue führende Weltmetropole und wetteiferten immer wieder darum. Beide hatten gute Argumente, warum sie London und Paris als globales Handels- und Kulturzentrum ablösen sollten. Berlin beanspruchte eine kulturelle Vorreiterrolle innerhalb Europas, während New York versuchte, so europäisch wie nur möglich zu sein.

Dies geschah beispielsweise durch die Gründung von Institutionen wie dem Metropolitan Museum of Art im Jahr 1872 und der Metropolitan Opera im Jahr 1883 als Träger europäischer Traditionen, in einem Maßstab, der ihre europäischen Vorbilder bei weitem übertreffen sollte. Dann, im Jahr 1898, wurden die fünf New Yorker Bezirke eingemeindet und über die Brooklyn Bridge (1898) und das U-Bahn-System (1904) miteinander verbunden.

Nach 1945 musste Berlin Wunden heilen - New York wuchs weiter

Die New Yorker U-Bahn, gebaut nach dem Londoner Vorbild, ermöglichte und erforderte es, dass die Arbeiter weit entfernt vom Stadtzentrum wohnten und – unabhängig von der Distanz – ihren Arbeitsplatz zu einheitlichen Fahrkartenpreisen erreichen konnten. Analog dazu Berlin: Die Linie, die heute die U1 ist, wurde im Jahr 1902 eröffnet. 1920 vereinte und erweiterte das Groß-Berlin-Gesetz die Stadtbezirke, inklusive dem zentralen Alt-Berlin und seiner sieben umgebenden Gemeinden.

Die Wege der zwei Städte trennten sich 1945. Während Berlin sich von den beinahe tödlichen Wunden des Zweiten Weltkriegs erholte und am Horizont schon die ersten Zeichen des Kalten Krieges aufzogen, setzte New York seine Expansion fort. Für fast zwei Drittel des 20. Jahrhunderts, von 1933 bis 1989, wurde die Globalisierung Berlins unterbrochen.

Heute ist New York übersättigt, unzugänglich, teuer

Nach 1989 und der Wiedervereinigung erschien Berlin jedoch für viele – und sicherlich auch für viele New Yorker – zunehmend wie eine Version New Yorks, die die Stadt selbst zwar einmal für sich erobert, seitdem jedoch verloren hatte. New Yorker (wie ich) hatten verstanden, dass unsere Stadt in zu vielen negativen Aspekten sozial wie architektonisch vertikal geworden war. Übersättigt, unzugänglich, teuer.

Berlin auf der anderen Seite schien nach 1989 eine neue Horizontalität zu zelebrieren. Nach der Wiedervereinigung nach drei Jahrzehnten traumatischer Teilung wieder physisch offen, konnte man die Stadt und ihre kulturelle Landschaft nun als die positive Horizontalisierung der negativen Vertikalität New Yorks verstehen: als eine globale und großzügige Stadt. Offen, zugänglich, weitläufig, relativ erschwinglich und mehr oder weniger stressfrei.

Im Gegensatz zu ihrem New Yorker Gegenstück wurde die Berliner Infrastruktur erneuert, um Ost und West zusammenzuflicken. Wir haben drei Opernhäuser, das wurde zu einem beliebten Gegenstand lokaler Prahlerei, auch bei denjenigen, die eigentlich nicht besonders gern in die Oper gehen. New York hat momentan nur eine Oper. Die Berliner Eintrittspreise waren und sind günstig, Tickets – wenn nicht gerade Domingo oder Netrebko singen – üblicherweise verfügbar.

Und der Platz in Berlin! Ich meine nicht die Berliner Parks, denn kein grüner Ort ist so schön und einladend wie der Central Park, sondern schlicht und ergreifend die Weitläufigkeit der Straßen; die Art und Weise, wie Restaurants ihre Tische zum Sommeranfang hinaus ins Freie stellen. Der öffentliche Raum muss immer auch gemeinschaftlich nutzbarer Raum sein, wo sich das Beisammensein einer großen Zahl an Fremden in der Öffentlichkeit sicher anfühlt und wo die heikle Balance zwischen Privatsphäre und menschlichem Kontakt entspannt ausgehandelt werden kann. In New York ist jeglicher Augenkontakt zwischen Fremden tabu, wogegen er in Berlin unproblematisch erscheint.

Horizontalität bedeutet eine größere Zugänglichkeit, jedoch auch die Aushandlung von Differenzen. Das ist das Versprechen von Berlin, das Berlin-Gefühl, das die Stadt so gastfreundlich macht.

Nicht, dass die offene Stadt Berlin ihre Differenzen überwunden oder gar versucht hätte, sie zu unterdrücken. Das Verschmelzen von Ost und West bringt immer noch fortlaufend Risse zutage. Als die Staatsoper 2010 vorübergehend ins Schillertheater umzog, drückten manche Mitarbeiter ihren Unmut über das tägliche Pendeln in den Westen aus. Und so lange die Staatskapelle zwei Konzerte an aufeinanderfolgenden Abenden spielte, eins in der Philharmonie und eins im Konzerthaus, zog das jeweils ein fühlbar unterschiedliches Publikum an: global und West-Berlinerisch in der Philharmonie; Ost-Berlinerisch im Konzerthaus.

2018 gibt es eine neue Gegenüberstellung: Berlin - Jerusalem

Horizontalität bedeutet aber auch soziale Integration, ein Teil der Berliner Geschichte, der sich weiterhin als schwierig erweist, aber auch erfolgreich war: von der beständigen Eingliederung der türkischen Einwohner von reinen Arbeitskräften zu Staatsbürgern bis hin zum politischen und literarischen Mainstream und dem vielseitigen öffentlichen und privaten Engagement für Geflüchtete.

Berlin/Paris, Berlin/Moskau, Berlin/New York: Das sind urbane und kulturelle Gegenüberstellungen, Vergleiche, Wettbewerbe, die uns wohl bekannt sind. Dennoch sind sie immer wieder lohnend. Momentan ist in Berlin für 2018 eine neue und unerwartete Gegenüberstellung im Kommen: Berlin/Jerusalem.

Ich beziehe mich auf die Ausstellung „Welcome to Jerusalem“, die bis April 2019 einen Großteil der öffentlichen Räume des Jüdischen Museums in Berlin beanspruchen wird, während sich dessen Dauerausstellung in Überarbeitung befindet. Sie legt einen anderen Schwerpunkt, entspringt aber dem gleichen Geist wie der Grundfokus des Museums, der Geschichte der deutschen Juden. Die Jerusalem-Ausstellung erzählt eine säkulare Geschichte über eine heilige Stadt, in der ihre Vielfalt als ein wesentlicher historischer Fakt dargestellt wird.

Die "Sicherheitsmauer" um Jerusalem kommt Berlinern vertraut vor

Die Ausstellung besteht aus verschiedenen Sequenzen, die in einem eleganten Zirkel aufeinanderfolgen. Am Beginn und am Ende steht jeweils eine Darstellung der drei monotheistischen Religionen und ihrer Beziehungen zu Jerusalem sowie den Ansprüchen auf die Stadt. Es geht weiter mit verschiedenen Praktiken (altertümlich und modern) und rituellen Objekten. Sie endet schließlich mit einer Video-Installation, die die Konflikte zwischen den drei Kulturen im 20. Jahrhundert zusammenfasst, als religiöse Differenzen im Kontext des Osmanischen Reiches, der Britischen Kolonialherrschaft und der postkolonialen Zeit eine Politisierung erfuhren.

Die Erzählung gipfelt im Bau der „Sicherheitsmauer“, die Israel von den palästinensischen Gebieten trennt. Das Video endet mit einem bildschirmfüllenden Bild dieser Mauer. Die „Sicherheitsmauer“ ist sowohl Symbol als auch physische Realität sozialer Desintegration. Obwohl nicht explizit benannt, ist es unwahrscheinlich, dass einem Berliner Betrachter die Parallele zwischen der Sicherheitsmauer und der Berliner Mauer entgeht.

Einer Gruppe von Musikstudenten aus Nazareth, die ich vor einigen Jahren hier in Berlin einer Gruppe meiner amerikanischen Universitätsstudenten vorstellen durfte, entging die Gegenüberstellung der zwei Mauern jedenfalls nicht. Das Thema unseres einwöchigen Seminars war Gastfreundschaft: die Beziehung zwischen Gastgeber und Gästen in dem ambivalenten Kontext, wo sich Offenheit, die nun Willkommenskultur heißt, mit Feindseligkeit verbindet.

An einem Abend besuchten wir zusammen eine Vorstellung von Richard Wagners „Die Walküre“, die mit feindseliger Gastfreundschaft zwischen den Charakteren Hunding und Siegmund beginnt. Unsere Diskussion fand jedoch in den Räumen des Barenboim-Said-Kindergartens statt, der sich in einem DDR-Bau an der Leipziger Straße befand. Die Studierenden aus Nazareth, alle zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren jung, christliche und muslimische Araber mit israelischer Staatsangehörigkeit, erzählten wortgewandt von den formellen und informellen Unterschieden im Status und in den Bürgerrechten zwischen Arabern und Juden, die sie täglich erlebten.

Das Gespräch kam auf die Geschichte von Juden in Deutschland, ein Thema, das ihnen generell neu war. Wir sprachen über den Kontext, in dem Juden, formell und informell, zu Fremden im eigenen Land gemacht wurden, was Michael Blumenthal in seinem Buch über die deutsche jüdische Geschichte als dritte oder „unsichtbare Mauer“ beschreibt. Als wir aus dem Gebäude an der Leipziger Straße heraustraten, bemerkten alle, dass wir von Ost-Berlin die Grenze zurück in den Westen überquerten, über die Linie, an der einst die Berliner Mauer stand.

Michael P. Steinberg ist Präsident der American Academy Berlin. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Tina Reis.

Der Berlin-Monitor zeigt Ihre Meinung zu den großen Themen der Hauptstadt. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Mehr Informationen hier.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false