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DRamatisches Finale: Georg Nigl (Mitte) als Jakob Lenz.

© Bernd Uhlig

Staatsoper im Schillertheater: Stiller Schrei, leises Wimmern

Die allerletzte Staatsopern-Premiere im Berliner Schillertheater: Andrea Breths erschütternde Inszenierung von Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“.

Schon zu Beginn ist er am Ende. „O Geist! Geist, der du in mir tobst, woher kamst du, dass du so eilst?“, lauten die ersten Worte in Wolfgang Rihms Oper „Jakob Lenz“. Der Protagonist schreit sie hinaus ins Nachtdunkel. Fast vollständig entblößt robbt Georg Nigl in Andrea Breths Inszenierung über die Bühne, die Martin Zehetgruber als möblierte Wüstenei gestaltet hat: Da schlängeln sich Rinnsale über den Dielenboden, da liegt ein umgestürzter Schreibtisch zwischen Felsbrocken, zusätzlich sorgen schräg gestellte Spiegelwände für optische Verwirrung. Die Welt des jungen Dichters liegt in Trümmern, der Freigeist und Vordenker des Sturm und Drang ist außer sich.

In einem 80-minütigen Delirium hat der Komponist Wolfgang Rihm 1978 die Schlüsselsituation im kurzen Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz festgehalten: jene Tage in einem Elsässer Vogesental, in denen bei dem 26-Jährigen der Wahnsinn ausbricht. Oder das, was seine Umwelt dafür hält. Aus den Aufzeichnungen, die sein Gastgeber, ein Pfarrer namens Oberlin, hinterlassen hat, entwickelte der Schriftsteller Georg Büchner seine berühmte Novelle, die wiederum zur Vorlage des Librettos wurde. Vielleicht war es das Zerwürfnis mit Goethe, dem verehrten Freund, das Lenz psychisch so zugesetzt hatte, vielleicht war die Krankheit erblich angelegt.

Die Gestalt des blitzgescheiten Poeten, der seine Karriere vielversprechend als sozialkritischer Theaterreformer begonnen hatte, um dann in Armut und Umnachtung abzustürzen, hat Generationen fasziniert. Und drängt sich geradezu als Opernstoff für einen Komponisten, der wie Wolfgang Rihm die Gefühlsaufwallung, ja das Pathos nicht scheut. Der große Expressive unter den Nachkriegsavantgardisten war dennoch so klug, seinem „Jakob Lenz“ nur ein 11-köpfiges Orchesterchen an die Seite zu stellen: drei Celli, je zwei Oboen und Klarinetten, Fagott, Posaune, Trompete, Schlagzeug und Cembalo. Auf dass die Klangwellen nicht zu hoch schlagen, die zarte Gestalt des Titelhelden nicht erdrücken.

Andrea Breth hat ihre Deutung der Rihm-Oper für Berlin reanimiert

Was seinem Werk zunächst die Einordnung in die Schublade Kammeroper einbrachte – und damit die Verbannung auf die Nebenspielstätten der Musiktheaterhäuser. Als die Regisseurin Andrea Breth jedoch vor einigen Jahren eine Zurichtung des „Lenz“ durch Frank Castorf bei den Wiener Festwochen erlebte, reifte in ihr die Idee, das Stück selber zu machen. Besser natürlich – und auf einer großen Guckkastenbühne.

2014 kam ihre Deutung in Stuttgart heraus, nach einer weiteren Station in Brüssel hat die Regisseurin sie nun für die Berliner Staatsoper reanimiert, als allerletzte Premiere im Ausweichquartier des Schillertheaters. Und sie entfaltet auch hier eine enorme Sogkraft. Weil der Dichter in der Weite des ihn umgebenden Raumes wirklich verloren wirkt, eines Raumes zudem, der sich hinterm Gazevorhang ständig von Geisterhand verändert, immer zugleich Innen und Außen ist, Gestern und Heute. Denn nicht nur Eva Desseckers Kostüme verweigern sich einer konkreten epochalen Festlegung, auch Wolfgang Rihm hat ja in seine Partitur ganz selbstverständlich Vergangenes eingewebt, Madrigale, einen ländlichen Walzer, Rokoko-Reminiszenzen auf dem Cembalo, Choralartiges.

Der Komponist schreibt keine hermetische Musik, versteift sich nicht auf satztechnische Dogmen oder mathematische Relationen, sondern schafft einen Strom der Klänge, der auch da nie aggressiv wird, wo er stark anschwillt, der Dissonanz als Ausdrucksmittel begreift, als Emotionsverstärker. Es ist das Prinzip der Kammermusik, das für diese Kammeroper gilt: Die Besetzungsstärke ist zweitrangig, es kommt auf die innere Einstellung des Schöpfers wie der Ausführenden an. Wenn die einzelnen Stimmen solistisch-autonom geführt werden und dennoch sensibel auf jede Bewegung der Mitspieler reagieren, dann füllen auch 11 Instrumentalisten mühelos einen 1000-Plätze-Saal.

Dirigent Frank Ollu ist mit der komplexen Partitur bestens vertraut

Dass Dirigent Frank Ollu bereits die ersten beiden Stationen dieser Produktion betreut hat, zahlt sich in Berlin aus. Weil er sich eine Vertrautheit mit der Partitur erarbeiten konnte, die er jetzt weitergibt, als souveräner Koordinator des komplexen Geschehens. Was es wiederum den Zuhörern erleichtert, sich auf die atmosphärisch dichte Klangsprache Rihms einzulassen. Die hier absolut logisch wirkt: Wäre eine Musik, die vom traurigen Schicksal des Jakob Lenz erzählt, im tonalen System überhaupt denkbar?

Schon in der Wiener Produktion, die den Anstoß für Andrea Breths Beschäftigung mit „Jakob Lenz“ gab, hat der Bariton Georg Nigl den Titelhelden verkörpert. Und er tut es auch jetzt wieder, mit rückhaltloser Verausgabung, unübertrefflicher Bühnenpräsenz. Wobei das Grandiose an seiner Performance gerade darin besteht, dass sie in keinem Moment gespielt wirkt.

"Hören Sie denn nichts?", ruft der Dichter Lenz dem Pfarrer zu

Ob er schreit oder flüstert, vom Singen ins Sprechen kippt oder umgekehrt, ob er rast, stammelt, wimmert, alles kommt aus dem tiefstem Innern, stets ist der ganze Körper sein Resonanzraum, wird jede Geste, jede Verrenkung allein durch die Töne ausgelöst. Wie Georg Nigl in einem Riesenregal kauert und von Erinnerungen gequält wird an Friederike, die ihn nicht lieben konnte, wie er im Schlussbild erst kindisch auf einem Bett herumhopst, bevor er von seinen Beschützern in eine Zwangsjacke gesteckt wird, das sind Bilder, die im Gedächtnis bleiben.

Andrea Breth hat erkannt, dass um dieses Kraftzentrum nur noch ein Minimum an Aktion nötig ist: Die beiden Männer, die Lenz helfen wollen, und in ihrem Pragmatismus doch nicht zu ihm vordringen – Henry Waddington als Oberlin und John Graham-Hall als sein Freund Kaufmann – bleiben szenisch Statisten in diesem Seelendrama ebenso wie die sechs Choristen, die vor allem akustisch präsent sind, als Echo im Kopf des Dichters. „Hören Sie denn nichts?“, ruft er dem Pfarrer zu, „die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt?“

In die Lautlosigkeit ist Jakob Lenz schließlich gegangen, nach der Episode, die Rihms Oper umfasst. 13 Jahre hat er noch gelebt, verarmt und allein, als Übersetzer in Moskau, bis man ihn am 23. Mai 1792 tot auf der Straße fand. Im einzigen Nachruf, der damals erschien, hieß es: „Er starb, von wenigen betrauert und von keinem vermisst.“

- wieder am 8., 10., 12. und 14. Juli

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