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Hartmut Rosa, 1965 geboren, ist Soziologieprofessor in Jena.

© Juergen Bauer/dpa

Soziologe über Sehnsucht: Hartmut Rosa: „Wir brauchen eine andere Form des Kontakts“

Alles soll verfügbar sein, von der Musik bis zum Leben selbst. Diese Haltung entfremde uns, meint Hartmut Rosa - und plädiert für ein Umdenken. Ein Gespräch.

Herr Rosa, Ihr jüngstes Buch heißt „Unverfügbarkeit“. Eine sperrige Substantivierung, die sehr deutsch klingt. Was verstehen Sie darunter?

Man kann den Begriff am besten verständlich machen, wenn man sich ihm vom Gegenteil annähert. Menschen versuchen immer und überall Dinge verfügbar zu machen. Zu beherrschen, zu kontrollieren. Dazu dienen uns Wissenschaft, Technik und Wirtschaft. Das, was wir aber nicht beherrschen, ist das Unverfügbare.

Ist es nicht selbstverständlich, dass wir Dinge beherrschen wollen?

Mir ist aufgefallen, dass sich die Glückserfahrungen und Sehnsüchte immer auf die Grenzlinie beziehen zwischen dem, was wir im Griff haben und dem, was wir nicht im Griff haben. Nehmen wir ein so banales Ding wie Fußball. Da stellt sich nun heraus, dass man Erfolge nicht kaufen kann. Große Mannschaften verlieren noch immer gegen kleine. Solche Momente der Unverfügbarkeit macht das Leben erst lebenswert und interessant

Unerfüllte Liebe ist schrecklich. Wollen Sie das den Menschen absprechen?

Liebe ist ein gutes Beispiel. Wir begehren das, über was wir nicht völlig verfügen können. Deswegen sind Ehen oft problematisch. Wenn ich mir zu sicher bin, dann erkaltet die Liebe. Aber es ist auch schrecklich, wenn sich das Gegenüber nur ablehnend zeigt. Ich kann nur in Resonanz treten, wenn mir jemand entgegen kommt. In gelingenden Liebesbeziehungen bleibt mir der andere immer ein Stück weit unverfügbar, aber er ist erreichbar. Darum erfahren Menschen in der Liebe so viel Glück.

Warum ist die Unverfügbarkeit für uns so problematisch?

Es gibt eine seltsame Doppeltendenz. Seit Kindertagen bin ich von Schnee fasziniert. Doch wann es anfängt zu schneien, ist ein Moment der Unverfügbarkeit. Man kann es nicht erzwingen. Es kommt wie ein Geschenk und verwandelt die Welt. Nimmt man Schnee in die Hand, zerrinnt er. Als Kind wollte ich ihn in der Gefriertruhe konservieren. Aber dann hört es auf, Schnee zu sein. In Skigebieten versucht man heute mit Schneekanonen nachzuhelfen. Wir wollen Dinge verfügbar machen, um dann, wenn die Zeit gekommen ist, damit in Resonanz zu treten. Dann verliert es aber genau diesen attraktiven Moment, und ich gefährde die erhoffte Beziehung.

Das war nicht immer so, schreiben Sie. In der Moderne ist ein neues Weltverhältnis zu beobachten. Was hat sich gewandelt?

Wir leben heute in einer Welt, die sich nur durch Steigerung erhalten kann. Wir müssen immer schneller, innovativer und besser werden. Das zwingt uns in eine Welthaltung, die ich Aggressionsmodus nenne. Uns geht es um die Vergrößerung der Weltreichweite. Bei Spotify steht die gesamte Musikgeschichte zum Abruf bereit. Diese Dynamik der fortwährenden Verfügbarmachung kennzeichnet moderne Gesellschaften.

Zwei Beispiele aus jüngster Zeit: die Debatte um Pränataldiagnostik. Und das Schwarze Loch. Wo sind die Grenzen der Verfügbarkeit?

Bei der Debatte um Pränataldiagnostik kann man beobachten, dass wir das Wunder des Lebens verfügbar machen. Wir wollen Kinder nur auf eine bestimmte Weise bekommen. Doch das Leben wird in der Grundtendenz immer unberechenbar bleiben. Das Schwarze Loch ist schon in der Theorie unverfügbar. Wenn wir dort hinreisen würden, wären wir tot. Doch jetzt ist es uns gelungen, es sichtbar zu machen. Und die Rätselhaftigkeit des Schwarzen Lochs wird erst dann interessant, wenn es ein Stück weit zugänglich ist. Es kommt auf die Wahrung dieses Wechselverhältnisses an. Ich nenne das Halbverfügbarkeit.

Ist die Gefahr etwas, was der Verfügbarmachung generell innewohnt?

Das Unverfügbare kann als Monster zurückkehren. Als wir die Fähigkeit erwarben, Atomkerne zu spalten, da war ein Jubel in der Welt. Wir waren wie Gott und konnten Materie aus dem Inneren beherrschen. Im Atomunfall aber wird das zuvor Beherrschbare absolut unverfügbar und tödlich. Tendenziell begegnet uns das auch im Alltag. Wir können alles per Knopfdruck regeln. Im Auto beispielsweise: Türen auf, Türen zu. Es reicht aber ein kleiner Fehler in der Elektronik und nichts geht mehr. Jeder kennt das, wenn Handy oder Computer sich aufhängen. Das erzeugt unglaublichen Zorn. Weil es nicht mehr auf uns reagiert. Hinter unserem Rücken nimmt die monströse Unverfügbarkeit mit dem Fortschritt zu. Auch im Politischen ist das zu beobachten. Menschen haben das Gefühl, dass die Dinge ihnen entgleiten. Sie können ihr Leben nicht mehr planen. Und das schafft sogenannte Wutbürger.

Wo sehen Sie denn den Zusammenhang zu Wutbürgern?

Ich beobachte überall eine Unzufriedenheit. Die Welt gibt uns nicht das, was wir uns von ihr versprochen haben. Etwas in dieser Beziehung scheint nicht richtig zu sein. Der Begriff der Entfremdung trifft es gut. Die vollständig verfügbare Welt antwortet uns nicht mehr. Es wird zunehmend eine stumme Weltbeziehung. Das erzeugt Wut und Aggression.

Sie nennen das Beispiel Weihnachten. Menschen projizieren so viel auf diese Tage.

Daran sieht man das Auseinanderfallen der modernen Welt. Vor Weihnachten sind alle im totalen Stress. Dann am Heiligabend will ich den Schalter umlegen. Da bricht sich die Sehnsucht Bahn. Wir können aber nicht einfach den Schalter umlegen. Umso schmerzhafter, weil Weihnachten jedes Jahr gleich ist. Und rituelle Vollzüge immer schon den Sinn hatten, uns mit anderen in Beziehung zu setzen.

Brauchen wir also mehr Rituale?

Der Pianist Igor Levit wurde gefragt, ob er die Mondscheinsonate überhaupt noch hören könne, weil er sie Tausende Male gespielt hat. Und er antwortete: Jedes Mal klingt es anders. Denn das Stück entzieht sich ihm fortwährend. Dadurch macht er immer neue Erfahrungen. Das ist sein Glück. Doch wir haben das verlernt. Und sagen: Von Beethoven kenne ich alles. Oder: In Italien war ich schon.

Wie hilft uns Ihre Idee der Unverfügbarkeit dabei, mehr von der Welt aufzusaugen und lebensgesättigter zu sein?

Ich möchte kein Ratgeber sein. Aber: Alles was wir tun, entspringt einer Sehnsucht nach Resonanz. Wir möchten uns als lebendig erfahren, in dem wir uns berühren lassen und in Kontakt treten. Heute wird das in der Werbung instrumentalisiert – für eine Objektbegierde. Versprochen wird eine Begegnung, verkauft aber eine Ware. Was wir aber brauchen, ist eine andere Weise des Begegnens. Nicht kontrollieren und beherrschen, sondern in Kontakt treten. Ein vibrierender Draht zwischen uns und der Welt. Eine Haltung des Hörens und Antwortens, statt des Beherrschens.

Liegt das überhaupt in unserer Hand?

Ich bin Soziologe und versuche mich von Achtsamkeitsbewegungen und Esoterik abzugrenzen. Die Haltung des Subjekts hängt nicht nur am Einzelnen. Die Weltseite ist genauso wichtig. Denn diese zwingt uns in eine Haltung, die auf Optimierung und Steigerung angelegt ist. Menschen stehen heute immer unter Zeitdruck und in einem Konkurrenzverhältnis. Wir dürfen uns dabei oft nicht berühren lassen, müssen uns kontrollieren. Eine solche Gesellschaft erzeugt die Sehnsucht nach Resonanz, macht sie aber immer unwahrscheinlicher.

Das Gespräch führte Hannes Soltau. Das komplette Interview wird am Samstag, 20. April, in der Reihe „Causa - Der Ideenpodcast des Tagespiegel“ veröffentlicht. Alle weiteren Folgen sind auf tagesspiegel.de, Spotify oder iTunes zu finden, u. a. ein Streitgespräch zwischen Alice Schwarzer und Margarete Stokowski.

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