zum Hauptinhalt
Geprägt von der Kritischen Theorie. Helmut Dahmer.

© SelmaHackerty/Wikipedia

Sozialpsychologe Helmut Dahmer: Sozialisierter Wahn

Helmut Dahmer ist ein Rebell unter den Sozialpsychologen. Jetzt ist ein Auswahlband seiner wichtigsten Aufsätze erschienen.

Von Caroline Fetscher

Alexander Mitscherlich, der 1960 das Sigmund-Freud-Institut (SFI) in Frankfurt am Main gründete, hatte ein doppeltes Anliegen. Mit der Rückkehr der vom Nationalsozialismus verfolgten und vertriebenen Psychoanalyse nach Deutschland sollte deren Potenzial als therapeutisches Verfahren wie als kritische Kulturtheorie wiederbelebt werden. Erst im Erkunden der Spannungsverhältnisse von Gesellschaft und Individuum, war Mitscherlich überzeugt, lasse sich die emanzipative Energie des von Freud angeregten Denkens über Triebe und Affekte voll entfalten. In Texten wie „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ – verfasst vor genau 100 Jahren – hatte Freud am Entschlüsseln destruktiver Gruppenprozesse gearbeitet.

Wie ist es möglich, dass Individuen ihr Gewissen, ihr Über-Ich, „abwerfen“, um ihre Ressentiments in der Masse gewaltsam und ohne Hemmungen auszuleben? Damals waren Freuds Fragen auch durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst worden; durch den Zweiten Weltkrieg und den Genozid an Europas Juden stellten sie sich noch drängender. Dass Psychoanalyse sich politisch nicht neutral geben dürfte, war am Freud-Institut weitgehend Konsens – doch längst nicht in der Zunft.

Nach Mitscherlichs Tod 1983 veröffentlichten einige seiner Mitstreiter den Band „Das Unbehagen in der Psychoanalyse. Eine Streitschrift“ (Hg. Hans-Martin Lohmann, Qumran Verlag 1983). Genau besehen war die Essaysammlung ein Aufruf an die „eingeschüchterte“ und „mutlos“ gewordene Psychoanalyse, sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung und ihrer Vergangenheit zu stellen, statt sich vor allem um ihr Prestige und ihre Kassenleistungen zu kümmern.

Wie entstehen Zwänge?

Bis heute ist von den damaligen Autoren des Bandes der 1937 geborene Soziologe Helmut Dahmer aktiv: produktiv und streitbar, ein unermüdlicher Rebell. Studiert hat er bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und inzwischen über ein Dutzend Werke zur Psychoanalyse als Gesellschaftstheorie publiziert, die kaum inspirierender sein könnten. Jetzt liegt eine Anthologie vor, die einen kompakten Überblick zu Dahmers Thesen und Herleitungen enthält, 500 satte Seiten zum Denken, Debattieren und Streiten, vieles zum ersten Mal veröffentlicht – und so gut wie alles anwendbar auf aktuelle Fragen (Helmut Dahmer: Freud, Trotzki und der Horkheimer-Kreis. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2019. 525 Seiten, 45 €).

Im Kern geht es Dahmers „Restitution der Freudschen ,Kritischen Theorie’“ um die größte aller Fragen: Wie lässt sich, beim Individuum wie in der Gattung, der fatale Wiederholungszwang auflösen, der sich aus dem Unbewussten speist? Nur durch Kenntnis der Genese der Zwänge, ob es sich um vergangenen Despotismus oder um Dschihadisten, Antisemiten und völkische Ethnonationalisten in der Gegenwart dreht. Kein Terrorteich ist zu tief, als dass Dahmer nicht auf den Grund tauchen wollte, um zum Auflösen von Mythen und Machtverhältnissen beizutragen. Zentral ist das Beenden der Sündenbocksuche, die so oft Krisen und anwachsende Komplexität begleitet, und wodurch ichschwache, autoritär strukturierte Individuen etwa zu Antisemiten werden. „Mit dem Verleugnungsaufwand, den der Antisemit leisten muss, nimmt seine Erfahrungsfähigkeit ab, nimmt seine soziale Blindheit zu“, so Dahmer. „Der Wahn muss sozialisiert werden, er ruft nach Bestätigung. Darum gehen alle Antisemiten auf Mission aus, sie sind zwanghafte Proselytenmacher.“

Als undogmatischer Marxkenner verweist Dahmer auf die globalisierte Warenförmigkeit und Entfremdung der Beziehungen. Als exzellenter Kenner der Entwicklung des Instituts für Sozialforschung nimmt er mehrfach dessen Zurückhaltung bei der Kritik am Stalinismus in den Blick, den Dahmers favorisierter Protagonist, Leo Trotzki, hellsichtig als „Sowjet-Bonapartismus“ bezeichnete, lange vor Hannah Arendts Analyse des Totalitarismus. Immerhin erklärte Max Horkheimer, als Dahmer ihn 1973 in seinem Tessiner Refugium besuchte, Trotzki sei dem Institut „am sympathischsten“ gewesen. Wie ein tröstendes Licht sticht die Aussage des Lehrers hier aus dem Füllhorn der aufklärenden Klagen hervor.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false