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Relikte eines sozialistischen Scheiterns. Ein Mann mit Maske passiert im coronageplagten Caracas am 28. Juli 2020 ein Wandgemälde des verstorbenen Staatspräsidenten Hugo Chávez.

© Federico Parra / AFP

Sozialismusrenaissance: Wir können, weil wir wollen, was wir müssen

In seinem Buch "Wir Untoten des Kapitals" empfiehlt Raul Zelik, die Klimakatastrophe mit einem grünen Sozialismus zu bekämpfen.

Von Gregor Dotzauer

Der Kapitalismus ist ein räudiger Köter, der Sozialismus aber ist ein toter Hund. Der letzte praktische Versuch, in seinem Namen hierzulande über Parteigrenzen hinweg Kräfte zu mobilisieren, die Sammelbewegung Aufstehen, hat sich mit der Demission ihrer Leitfigur Sahra Wagenknecht erledigt.

Und das philosophisch ehrgeizigste Unternehmen, die historisch korrumpierte Utopie noch einmal zu beleben, ein buchlanger Essay des Habermas-Schülers Axel Honneth, kommt über „Die Idee des Sozialismus“ (2017) nicht hinaus. Kommunikationstheoretisch entkernt, wie sie daherkommt, lässt sich mit ihr jedenfalls kein Staat machen.

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Von welchem realen Sozialismus soll man auch reden? Die Serie seiner durchaus heterogenen Niederlagen ist mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums nicht abgerissen. Jüngere Spielarten wie die Bolivarische Revolution, die der vor sieben Jahren verstorbene Hugo Chávez in Venezuela verkündete und zunächst erfolgreich ins Parlament führte, haben mit der Corona-Pandemie endgültig ins Elend geführt.

Individuelle Flugscham ist noch keine Verkehrspolitik

Der Stachel des Sozialismus sitzt am ehesten noch in einer Kapitalismuskritik, deren radikales Vokabular allerdings nicht selten über die tatsächliche Zahnlosigkeit hinwegtäuscht, mit der gerade die Enkel der Kritischen Theorie die sozialen und ökologischen Konflikte der globalisierten Welt bearbeiten.

Zugleich hat der Sozialismus etwas Wiedergängerisches, eine Fähigkeit, immer wieder aus dem Grab zu steigen, um seine zu Lebzeiten geleisteten Versprechen vielleicht doch noch einzulösen. Mit Nächstenliebe, Flugscham und Vegetarismus, also individueller Moral allein, lassen sich die destruktiven Energien des Akkumulationsgeschehens eben nicht bändigen.

Insofern ist es nicht bloße Unverdrossenheit, sondern beinahe der Mut der Verzweiflung, wenn der 1968 in München geborene Schriftsteller und Politikwissenschaftler Raul Zelik diesen politischen Zombie aufpäppeln möchte und bei diesem Versuch andere, nicht weniger unheimliche Zombies bemüht.

„Wir Untoten des Kapitals“ heißt seine Programmschrift für einen grünen Sozialismus, der einem in entseelter Marktförmigkeit auf den ökologischen Kollaps zutreibenden Kapitalismus und seinen willenlosen Konsumentenheeren Paroli bieten soll. Raul Zeliks Ideen basieren unter anderem auf einem „Neosozialismus“, dessen Schlüsselthesen der Soziologe Klaus Dörre 2019 in einem gleichnamigen Sammelband unter Beteiligung von Zelik diskutieren ließ.

Gegengift zum Neoliberalismus

Dörre, zusammen mit Hartmut Rosa und Stephan Lessenich Direktor des Kollegs Postwachstumsgesellschaften an der Friedrich-Schiller- Universität in Jena, hat den abschreckenden Begriff mit Bedacht gewählt. Er dient sowohl als Gegengift zum Neoliberalismus – und als trotziges Zeichen, die unselige Geschichte des Sozialismus mitzudenken, um eine Chance zu haben, über sie hinauszugelangen.

Für Dörre liegt das kapitalistische Dilemma in einer „ökonomisch-ökologischen Zangenkrise“. Das auf immer neuen „Landnahmen“ beruhende Wirtschaftswachstum, das den Wohlstand großer Teile der Bevölkerung mehrt (und damit dem sozialen Frieden dient), vernichtet zugleich die Ressourcen des Planeten. Ein sich selbst mäßigender Kapitalismus, der mithilfe eines „Green New Deal“ im eigenen Interesse Nachhaltigkeit erzeugt, ist innerhalb dieses Denkmodells nicht möglich.

Zelik trägt, prägnant formuliert und mit feuilletonistischen Exkursen, eine schwindelerregende Fülle von Informationen zusammen. Die utopiekritischen Romane des in der Klimakrise wiederentdeckten russischen Schriftstellers Andrei Platonow, Zombiefilme, die Netflix-Serie „El Chapo“ oder das Endzeitspektakel „Snowpiercer“ des koreanischen Regisseurs Bong Joon-ho liefern dabei ein Anschauungsmaterial, das der Argumentation zugutekommt, ohne sie an reine Kunstbetrachtung auszuliefern. Niemand, der sich einen Überblick über die sozialismusaffinen Konzepte dieser Jahre verschaffen will, wird dieses Buch ohne Anregungen lesen.

Keine Rücksicht auf kulturelle Unterschiede

Zeliks größte Stärke, die weltumspannende Diagnostik, ist jedoch zugleich seine größte Schwäche. Das ist nicht einfach ein dialektischer Einwand, der sich darauf bezieht, dass er weder kulturellen Unterschieden gerecht wird, wenn er im Schweinsgalopp Russland, China, Venezuela und Jugoslawien durchquert, noch der Komplexität wirtschaftlicher Zusammenhänge, wenn er eine Agenda für fast alle Industriesektoren entwirft. Der Einwand hat vielmehr mit den tendenziell unendlichen Reparaturversuchen zu tun, die ein in Misskredit geratener Sozialismus erfordert.

Mit jedem Problem, das Zelik zu lösen versucht, handelt er sich ein neues ein. Und so wird sein grüner Sozialismus, der natürlich auch die Emanzipationsbewegungen rund um Race und Gender aufnehmen will, zusehends expansiver, um sich im letzten Kapitel auch noch die menschliche Natur, das größte Hindernis allen dauerhaften Fortschritts, vorzunehmen.

Karl Marx gehört zu den Voraussetzungen dieses Denkens. Näher steht es jedoch dem des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi (1886–1964). „The Great Transformation“ heißt – auch in der deutschen Übersetzung – sein Buch, das seit einigen Jahren auch in liberalen Kreisen wieder in aller Munde ist.

Es enthält auch die folgende, von Zelik zustimmend zitierte Definition: „Sozialismus ist dem Wesen nach die einer industriellen Zivilisation innewohnende Tendenz, über den selbstregulierenden Markt hinauszugehen, indem man ihn bewusst einer demokratischen Gesellschaft unterordnet.“ So weit könnten sich dem wohl sogar Christdemokraten anschließen. Zu spitzen Schreien dürften aber Zeliks, auch von Klaus Dörre unterbreitete Vorstellungen von einer Planwirtschaft führen.

Gegen bürgerliche Manifestationen

Deren inhärente, erfahrungsgemäß katastrophale Widersprüche stellt er einerseits klar dar, sympathisiert aber dennoch mit Vorstellungen des Marburger Alt-Marxisten Elmar Altvater: „Die sozialistische Planwirtschaft strebt mit ihren Mitteln des konzentrierten Einsatzes von Ressourcen nach beschleunigter Realisierung der modernen Gesellschaft, deren Bild aber nichts als das Modell der bürgerlich-kapitalistischen Manifestationen von Fortschritt, Rationalisierung und Emanzipation spiegelt.“

Richtig daran ist sicher, dass der Raubbau an den planetaren Ressourcen drastische Eingriffe in den freien Markt erfordert – dies allerdings nicht ohne einen möglichst breiten Konsens der Erdbewohner über deren Notwendigkeit und einen in den reichen Ländern dann womöglich sinkenden Lebensstandard.

Es spricht nicht für die Grünen, dass sie sich solche Überlegungen von jemandem präsentieren lassen müssen, der im Bundesvorstand der Linken sitzt – auch wenn Raul Zelik alles andere als ein Programm für die eigene Partei bietet. Zugunsten einer Wellness-Ökologie haben sich die Grünen aller ökosozialistischen Strömungen entledigt; sie existieren innerparteilich nicht einmal mehr als Korrektiv. Dennoch gilt es festzuhalten, dass auch Zelik nicht mehr von gewaltsamen Revolutionen, sondern von parlamentarischen Mehrheiten träumt.

Warum aber soll eine demokratisch kontrollierte Marktwirtschaft zu Restriktionen prinzipiell unfähig sein? Sie wird nicht ohne zusätzliche deliberative Elemente auskommen, indem sie aus Laien bestehende Gremien einsetzt, die Bürger im Rahmen überschaubarer Entscheidungsprozessen aus ihrer Passivität reißt.

Es wäre, wenn man so will, eine abgemilderte Form rätedemokratischer Strukturen, deren Webfehler auch Zelik zugibt. Aber man könnte sich zumindest die Systemfrage sparen, die im Begriff eines grünen Sozialismus angelegt ist. Raul Zelik verleiht ihr mitunter einen unangenehmen Beigeschmack, wenn er im besten Glauben, nicht ins gleiche Horn der rechten Polemik gegen den „Staatsfunk“ zu stoßen, eine linke Medienpolitik fordert, die auch den privaten Konzernen Einhalt gebietet.

Raul Zelik: Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 328 Seiten, 18 €.

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