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Ran an das Repertoire. Ballett-Chefin Christiane Theobald.

© ddp images/Alexander Flocke

Sollte man den „Nussknacker“ noch spielen?: „Wir brauchen eine kritische Revision“

Christiane Theobald, kommissarische Intendantin des Berliner Staatsballetts, über Cancel Culture, Kolonialismus und Klischees in den Klassikern.

Von Sandra Luzina

Frau Theobald, viele Ballettfans sind enttäuscht, weil das Staatsballett in diesem Dezember keinen „Nussknacker“ zeigt. Haben Sie das Stück aus dem Programm genommen, weil Sie bestimmte Passagen für problematisch halten?
Ich habe mich im Sommer 2020, als ich für die Spielzeit 2021/22 plante, entschieden, eine Produktion anzusetzen, in der alle Ensemblemitglieder des Staatsballetts beschäftigt sind. Und so fiel meine Wahl auf „Don Quixote“. „Der Nussknacker“ stand gar nicht auf dem Plan. Wir hatten schon mal Jahre, in denen es keinen „Nussknacker“ gegeben hat. Damals hat es keine Reaktion gegeben.

Heute ist die Aufregung groß. Welche Reaktionen haben Sie erhalten?
Wir haben ganz viele Reaktionen bekommen, von Enttäuschung bis Unverständnis, aber auch Zustimmung.

Was ist denn heute problematisch an dem „Nussknacker“?
Die Frage muss eigentlich lauten: Was ist bei den Titeln des klassischen großen Repertoires aus der Entstehungszeit von vor über 100 Jahren, aus einer kolonialen Zeit, problematisch? Wir müssen da genauer hinschauen. Das betrifft eine Vielzahl von Titel. Es geht um die Divertissements, also die farbigen Akte, in denen Klischees der verschiedenen Länder und ihrer Bevölkerung gezeigt werden. Warum sollten wir an einer Darstellung von Stereotypen festhalten? Ich finde, man sollte sich die Freiheit nehmen, über diese Art der Darstellung nachdenken zu dürfen. Es sind meist Fantasien, die die Choreografen dargestellt haben. Sie waren nicht in die Länder gereist.

In den angelsächsischen Ländern wird schon länger über die ethnischen Stereotypen des „Nussknacker“ diskutiert.
Dort steht der „Nussknacker“ nach wie vor auf dem Programm, er wird aber oft einer kritischen Revision unterzogen. Das bezieht sich sehr häufig auf den chinesischen Tanz und den arabischen Tanz, weil dort Stereotypen gezeigt werden. Manchmal konnte es gelöst werden durch eine Veränderung im Kostüm oder in der Besetzung. Aber dafür muss man sich eingehend mit der Thematik beschäftigen und auch das Urheberrecht respektieren. Ich kann ja nicht so ohne Weiteres in das Werk der Choreograf:innen und künstlerischen Urheber von Bühne und Kostüm eingreifen und Veränderungen vornehmen.

Für das Staatsballett haben Vasily Medvedev und Yuri Burlaka eine Rekonstruktion des „Nussknacker“ erarbeitet, die Choreografie stammt aber zum größten Teil von ihnen selbst. Haben Sie die beiden schon kontaktiert?
Ich habe jüngst angefragt und beide haben sich ganz offen gezeigt für eine Analyse und Mitarbeit.

Zum Repertoire gehört auch das von Alexei Ratmansky rekonstruierte Ballett „La Bayadère“. Kommt das jetzt auch in den Giftschrank?
Es gibt beim Staatsballett keinen Giftschrank! Aber „Bayadère“ ist auch ein Titel, der aus dieser kolonialen Zeit stammt und Stereotype wiedergibt. Ich wünsche mir ein Kontextualisieren mit einer Vielzahl an Meinungen. Und im Idealfall hätte man eine Urfassung aus dem 19. Jahrhundert und parallel dazu einen Fassung von einem heutigen Choreografen oder einer Choreografin, also eine kritische Revision.

Nun wird dem Staatsballett vorgeworfen, es betreibe Cancel Culture.
Ich bin absolut nicht für Cancel Culture. Ich finde, der „Nussknacker“ soll wieder gespielt werden. Aber man kann einen Diskurs über Fragestellungen im Wandel der gesellschaftlichen Entwicklung führen; dieser Diskurs muss multiperspektivisch geführt werden. Es geht hier um kulturelles Erbe, aber das heißt doch nicht, dass wir keine Fragen stellen dürfen. Dies versuchen wir bereits mit unserer Diskussionsreihe „Ballet for Future?“

Was halten eigentlich die Tänzer:innen von dieser Debatte? Sehen sie überhaupt die Problematik?
Doch, die Tänzer:innen, die aus dem angelsächsischen Raum kommen, bringen eine Sensibilität dafür mit. Gleichzeitig sind solche großen klassischen Titel identitätsbildend für klassische Tänzer:innen und das Staatsballett fühlt sich auch verpflichtet, dieses Repertoire zu spielen. Was die Tänzer:innen nicht nachvollziehen können, ist die jetzige Aufregung.

Die Debatte ist sehr hitzig. Tauschen Sie sich darüber auch mit dem designierten Ballettdirektor Christian Spuck aus?
Ja, wir stehen in engem Kontakt.

Und was ist mit „Don Quixote“? Finden sich in dem Ballett nicht auch romantisierende Vorstellungen vom Leben der Roma?
In der Fassung von Victor Ullate heißen sie „Gitanos“. Auch da muss man hinschauen und das haben wir auch gemacht. Wir haben die Vertretung der Sinti und Roma kontaktiert und ein neues Programmbuch erarbeitet, um das zu durchleuchten.

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