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© AFP

Kultur: Soll er leben, lass ihn schweben!

Urahn der Moderne: Simon Rattles grandioser Sibelius-Zyklus in der Philharmonie. Die Philharmoniker stellten sich somit zum ersten Mal der 3. Sinfonie von Jean Sibelius.

Sollte Simon Rattle am 9. Februar zufällig in das Programmheft seines Philharmoniker-Konzerts geschaut haben, dürften ihm vor Erstaunen die weißen Locken zu Berge gestanden haben. Eine Aufführung der 3. Sinfonie von Jean Sibelius, heißt es dort lapidar, sei für die bislang erfassten Spielzeiten des Orchesters nicht nachzuweisen. Sibelius’ Dritte – ein Werk, das seit Dezennien zum Kanon des Repertoires gehört – hätte mithin bei Rattles Sibelius-Zyklus seine Philharmoniker- Premiere erlebt, mit einer Verspätung von 103 Jahren. Gibt es einen besseren Beweis dafür, dass die Philharmoniker im Fall des 1957 verstorbenen Komponisten einen Nachholbedarf haben?

Von diesem Indiz auf eine generelle Scheu der Berliner vor der Musik des finnischen Sinfonikers zu schließen, wäre allerdings übertrieben. Unter den hiesigen Chefdirigenten hat es immer schon leidenschaftliche Sibelius-Anwälte gegeben: Vladimir Ashkenazy, Kurt Sanderling oder auch Karajan, der gern die späten Sinfonien aufs Programm setzte. Dass allerdings gerade die Dritte ausgespart blieb, ist symptomatisch. Markiert sie doch den entscheidenden Wendepunkt in Sibelius’ Schaffen – weg vom spätromantisch aufgeladenen Schicksalston der ersten beiden Sinfonien, hin zu einem verknappten, hermetischen Stil absoluter Musik. Das berühmte Gespräch mit Gustav Mahler, in dem der Finne den welterklärenden Anspruch der sinfonischen Form verwarf, fand bezeichnenderweise 1907 statt, im Jahr der Uraufführung der Dritten. Das Ideal einer sich selbst genügenden, nur einer inneren Logik der motivischen Verknüpfung verpflichteten Musik, das Sibelius entwickelte, stieß damals freilich weithin auf Unverständnis. Wie sehr Sibelius damit seiner Zeit voraus war, wurde erst klar, als die musikalische Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre von sich aus zu ganz ähnlichen Ergebnissen kam.

Dass es auch Rattle nicht um sinfonische Finnen-Folklore, sondern um den modernen Sibelius zu tun ist, macht bereits ein Blick auf die Programme deutlich. Werke von Ligeti und György Kurtag sind in der Philharmonie als Hinweisschilder zum richtigen Hören am Beginn der Abende postiert: Ligetis 1961 entstandenen „Atmosphères“ beispielsweise klingen mit ihren vibrierenden Klangflächen wie eine konsequente Fortentwicklung der minimalistischen Streichertremoli Sibelius’. Kurtags „Grabstein für Stephan“ spannt mit seiner Konfrontation sanfter Gitarrenarpeggien und bruitistischer Ausbrüche einen akustischen Raum auf, in dem die Klänge quasi stehen bleiben, nachhallen und nachwirken können, statt in einen richtungsorientierten Prozess eingebunden zu werden. Ist man da nicht schon ganz dicht bei den ins Leere führenden, fragmentierten Streichergesten von Sibelius’ Vierter?

Sibelius als Großvater der Moderne: In so bündiger Formulierung wie bei Rattle und den Philharmonikern war das bisher kaum zu erleben. Was wiederum daran liegt, dass diese Qualität der Musik quer steht zum herkömmlichen spätromantisch gesättigten Orchesterklang. Mit den Farben, die für Mahler und Tschaikowsky taugen, kippt Sibelius’ Musik schnell ins Folkloristische, erst recht, wenn Dirigenten versuchen, sie so zu verdichten, dass kein Platz für die Leere mehr bleibt. Der abstrakte Kunstwerk-Charakter dieser Musik verlangt einen völlig homogenen, schwerelos lichten Streicherton – genau jenes Ideal, an dem Rattle seit seinem Amtsantritt mit den Philharmonikern gearbeitet hat. Schon damals diagnostizierte Sir Simon ein Sibelius-Defizit des Orchesters. Die Februar-Konzerte sind also auch eine Vollzugsmeldung, dass diese Arbeit nunmehr hinter den Berlinern liegt, dass sie jetzt jenen Klang perfekt beherrschen, der auch für Messiaen, Ligeti und Ravel so wichtig ist.

Das Orchester ist mithin zum idealen Instrument für die Absichten seines Chefs geworden: Schon der Zyklus-Start mit der ersten Sinfonie zeigt, dass Rattle im frühen Sibelius bereits den späten sucht. Selbst hier, wo die romantischen Vorbilder noch so mächtig sind, dass auch eine traditionelle, an der Sinfonik des 19. Jahrhunderts orientierte Lesart problemlos durch das Stück trägt, sucht und erweitert er den Raum, der zwischen den Noten liegt. Schon der gedämpfte Paukenwirbel, mit dem die Erste beginnt, scheint geradezu spekulativ ins Leere geschickt, flirrend, ohne Bodenhaftung das Scherzo. Im langsamen Satz lässt Rattle die gefühligen Aufwallungen immer wieder ersterben, als ob die Musik hier schon ihren Nachhall suchen würde und der Komponist sich nur noch nicht traute, sie gewähren zu lassen.

Mit solcherart gespitzten Ohren hört man auch die Zweite anders: Wenn die Freiräume, die die Erlösungsdramaturgie dieser populärsten (weil romantischsten) Sibelius-Sinfonie lässt, hier am kleinsten sind, so scheinen sich doch auch hier die sachte verklingenden Wortmeldungen von Oboe, Klarinette und Fagott immer wieder dem strikten Marschplan entziehen zu wollen, ist selbst der rasende Abwärtslauf der Violinen am Ende des zweiten Satzes kein Aufschrei, sondern eine gleißende Bewegungsstudie.

Klar ist allerdings auch, dass diese Sibelius-Sicht umso bruchloser funktioniert, je weniger die Modernität gesucht und aus einem romantischem Umfeld extrahiert werden muss. Höhepunkt des Zyklus ist dann auch gar nicht mal die glänzende Zweite, sondern die vermeintlich spröde Vierte. Bei Rattle wird daraus eine vergebliche Versuchsreihe mit dem Ziel, zu einer bleibenden, definitiven Form zu gelangen – eine Sinfonie ex negativo, die ihr Scheitern nicht hysterisch auflädt, sondern zum ästhetischen Gedanken sublimiert.

Bei Rattle ist Sibelius ein Komponist, der mit jedem Stück mehr dem Raum vertraut, der die Töne umgibt. Ende Mai wird Sir Simon diesen Weg mit den letzten drei Sinfonien des Komponisten zu Ende gehen. In aller Ruhe.

Jörg Königsdorf

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