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Was haben wir hier eigentlich gesehen? Szene aus der Dramatisierung von Thomas Manns „Krull“-Roman am Berliner Ensemble.

© imago images / Martin Müller

So war das Theater der Zehnerjahre: Kunstnasen in Penisform

Was hat die erste Dekade des 21. Jahrhunderts dem Theater gebracht? Ein Rückblick auf Aktivisten, Weltverbesserer und heillose Blödmänner.

Schön, dass mit dem Jahreswechsel auch eine neue Theater-Dekade begonnen hat! Nicht, dass im alten Bühnen-Jahrzehnt nicht einiges los gewesen wäre. Aber auf den letzten Metern war ihm ein wenig die Luft ausgegangen. Häufig saß man in Vorstellungen, in denen Schauspieler mit großer Berufswürde Regie-Ideen vollstreckten, die auf Teufel komm raus clever und witzig sein wollten, aber seltsam hölzern und anachronistisch wirkten.

Am Berliner Deutschen Theater zum Beispiel ließ die junge Regisseurin Nazanin Noori das „Regime der Liebe“ – ein soziologisch geschultes Diskurs-Pingpong über Machtverhältnisse in Intimbeziehungen – merkwürdigerweise von männlichen Blondinen-Karikaturen in Lack und Leder durchexerzieren. In Lucia Bihlers „Final Fantasy“ an der Volksbühne steckte das Personal von Oscar Wildes „Salome“ aus ebenso rätselhaften Gründen in Alien-Kostümen. In Alexander Eisenachs Thomas-Mann-Unternehmung „Felix Krull – Stunde der Hochstapler“ am Berliner Ensemble verwandelte sich der Protagonist vorübergehend in einen berlinernden Toilettenmonteur, weil bei Mann auch mal ein Kloschüsselfabrikant Erwähnung findet. Und eine maue Sex-Szene mündete in einen weiblichen Flachwitz über die erotische Leistungsfähigkeit des männlichen Schauspielkollegen.

Am Ende blieb in erster Linie die Frage, was man da eigentlich genau gesehen hat – und vor allem, warum.

Das Verhältnis zu Scherz, Satire und Ironie ändert sich

Die Mittel indes kennt man gut; sie gehören seit einem Vierteljahrhundert zum Stadttheater-Standard. Mit der Aufsprengung kanonischer Stoffe, mit der Anlagerung von Fremdtexten, der Synthese von Diskurs und Pop, Klassiker und Kalauer sowie dem Changieren der Schauspieler zwischen Bühnenfigur und Privatperson schuf die Berliner Volksbühne unter Frank Castorf seit den 1990ern bahnbrechende Inszenierungen, die zu Recht stilprägend gewirkt haben. Ein Exportschlager, der die ganze Theaterwelt erfasste – bei dessen Import allerdings öfter mal der Gehalt auf der Strecke blieb.

Adaptiert wurde vor allem die smarte Methode, die sich zu einer Art Werkzeugkoffer des zeitgenössischen Regiehandwerks verselbstständigte: Beim Monolog mindestens einmal schreien, aus der Rolle heraustreten und berlinern (sächseln, schwäbeln, wienern), die nebensächlichste Information fünfmal wiederholen und den Bühnenkollegen mit Vornamen ansprechen – das hat inzwischen jeder „Faust“ von Aachen bis Zwickau drauf.

Dass derlei Mittel – als Oberflächen-Politur missverstanden – ziemlich angestaubt wirken, ist aber sicher nur ein Grund für das Ermattungsgefühl im Parkett. Ein anderer liegt darin, dass die Gesellschaft sich verändert hat – und mit ihr das Verhältnis zu Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung. Die (Re-)Politisierung des öffentlichen Diskurses, die Tatsache, dass neue Fragen verhandelt werden – oder zumindest lange in die Latenz verdrängte Themen wie Klimawandel, Migration, Populismus und Geschlechtergerechtigkeit neu ins Zentrum rücken – ist ja auch am Theater nicht vorbeigegangen.

Das postmoderne Spiel hat starke Konkurrenz bekommen. Der „social turn“ – die Hinwendung der Künste zum Sozialen, die sich bereits in den nuller Jahren abzeichnete – ist maßgeblich geworden. Viele Künstler wollen gesellschaftliche Defizite nicht mehr immer nur vielschichtig dar-, sondern abstellen.

Wessen Geschichten werden eigentlich erzählt, wer spricht für wen?

So etablierte sich zum einen – auch im Rekurs auf Vorbilder mit Weltveränderungsanspruch à la Brecht – eine Kunst, die unmittelbar in die gesellschaftliche Wirklichkeit hineinzuwirken versucht und gern als „Artivism“ bezeichnet wird: eine Kombination aus „art“, der englischen Vokabel für Kunst, und Aktivismus. In Berlin sorgt in diesem Segment das Zentrum für politische Schönheit zuverlässig für Aufreger. Und in Moskau gelang dem Schweizer Regisseur Milo Rau ein epochaler Abend mit den „Moskauer Prozessen“ – einem Gerichtstheater-Format, das reale Schauprozesse gegen Künstler und Kuratoren mit tatsächlich Betroffenen wie Pussy Riot neu aufrollte.

Zum anderen haben in den 2010ern, in denen Shermin Langhoff vom Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße an die Spitze des Berliner Maxim Gorki Theaters wechselte und damit die erste türkischstämmige Chefin einer deutschen Staatsbühne überhaupt wurde, auch Konzepte wie das des postmigrantischen Theaters eine weit über Berlin und Deutschland hinausreichende Relevanz erreicht. Mit dem Diversitätsdiskurs sind überfällige gesellschaftspolitische Fragen ins Branchenbewusstsein gerückt: Wessen Geschichten werden eigentlich erzählt, wer spricht für wen, und wer kommt praktisch gar nicht vor? Auf ähnliche Weise hat auch die #MeToo-Diskussion gleichermaßen innerbetriebliche Struktur- wie künstlerische Repräsentationsdebatten bewirkt.

Kein Wunder, dass das angestammte Literaturtheater gegen diese Aktualitätseinbrüche ziemlich alt aussehen kann. Neu herausgefordert wird insbesondere die Aufführung der kanonischen alten Texte, wo Gegenwart ja gerade nicht mittels Tagesaktualität hergestellt, sondern aus der (Kultur-)Geschichte heraus entwickelt wird; über den Umweg jahrhunderte- oder gar jahrtausendealter Bühnenstoffe.

Alte Stilmittel treffen auf neue Inhaltsakzentuierungen

Natürlich gab und gibt es immer wieder erfolgreiche Regisseurinnen wie Andrea Breth und Regisseure wie Michael Thalheimer, die hier nicht vorrangig mit postmodernen Stilmitteln arbeiten. Aber diese haben sich weithin durchgesetzt und eignen sich prinzipiell ja auch gut, um an Euripides, Molière oder eben Thomas Mann genau diejenigen Aspekte aufzuzeigen, mit denen wir auch heute noch nicht fertig sind. Weil das Spiel mit Traditionen ermöglicht, historische Parallelen aufzuzeigen, ohne an überholten Handlungsdetails oder Textbehauptungen festhalten zu müssen. Und dass Ironie nicht die schlechteste Partnerin ist, wenn es darum geht, all die klassischen Amalias und Gretchens einigermaßen gegenwartstauglich zu machen, die kaum mehr zu tun haben als mit schnulzigen Liebeslyrics irgendwelchen Karls oder Fausts entgegenzubarmen, liegt auf der Hand.

Die postmodernen Stilmittel können da viel: Sie stellen jede temporäre Behauptung sofort infrage, dechiffrieren hinter den mächtigen Männer- wie hinter den schwachen Frauen-Figuren das kurz gedachte Klischee, feiern das Ambivalente, Multiperspektivische, produzieren semantische Mehrdeutigkeiten und kreieren – man denke an die mäandernden Castorf-Vielstünder – Bedeutungsüberschüsse, die sich der Verwertungslogik entziehen, im Idealfall aber auf erkenntnisfördernde Weise unterhaltsam sind.

Zu dem wenigen, wozu sich das viel zitierte anything goes indes denkbar schlecht eignet, gehört die Vermittlung klarer Botschaften. Genau das wurde am Ende der letzten Theater-Dekade aber vielerorts versucht: Alte (postmoderne) Stilmittel trafen auf neue (gesellschaftspolitische) Inhaltsakzentuierungen – und fanden nicht zueinander, sondern oft nur zu ziemlich platten Diagnosen. Hochkonjunktur hatte insbesondere der Befund, dass es sich bei den klassischen männlichen Protagonisten, die ja gern Götter, Könige oder mindestens Feldherren sind, um alberne kleine Würstchen handelt. Und weil die männlichen Protagonisten im Kanon überproportional vertreten sind, sah man am Ende der 2010er praktisch ständig das gleiche Stück; egal, ob Aischylos, Shakespeare oder auch Houellebecq auf dem Programm standen.

Blödmänner bevölkern die Bühnen: Was wollen Frauen von denen?

Das kam dann gern so windschief und unterkomplex über die Rampe wie Thorleifur Örn Arnarssons „Odyssee“ an der Berliner Volksbühne – ein Abend, der keinesfalls allein steht, sondern nur besonders hartnäckig in schlechter Erinnerung geblieben ist. Weil er einerseits breitbeinig die Castorf-Ästhetik abfeiern möchte und die Theatermaschinerie mit den Muskeln spielen lässt, andererseits aber, auf der Inhaltsebene, das Muskelspiel gerade als männliches Prinzip dekonstruieren will und den Heerführer Odysseus derart zum narzisstischen Affen macht, dass neben gähnender Langeweile schwerwiegende Plausibilitätsfragen auftauchen: Was mag eine zurechnungsfähige Frau wie Penelope zur Ehelichung dieser Witzfigur bewogen haben? Wie konnte ihr die Fehlleistung unterlaufen, zwanzig Jahre auf seine Kriegsrückkehr zu warten? Und wo ist überhaupt dieses furchteinflößend kriegerische Patriarchat, von dem die ganze Zeit gesprochen wird? Auf der Bühne sieht man nur die debil grinsenden Konterfeis der US-Präsidenten Trump, Clinton und Kennedy als überdimensionale Männerakte mit erigierten Schwänzen.

Derart geplättet, wendet sich die feministische Kritik, für die es ja gute gesellschaftspolitische Gründe gibt, aus Versehen gegen die Frauenfiguren selbst, die man zur gleichen Zeit zu erhöhen versucht – weil sie sich von heillosen Blödmännern kujonieren lassen. Ein Problem, das sich in Volker Löschs branchenselbstkritisch angelegter #MeToo-Inszenierung „House of Horror“ in Bonn weiter zuspitzt, wo dumpfbackig-halbseidene Intendanten-Darsteller aus schrumpligen Kunstnasen in Penisform ihre Schauspielkolleginnen beniesen.

Und so lautet ein inniger Wunsch für das just angebrochene Theater-Jahrzehnt, dass es für die komplexen Herausforderungen in der ganzen Bühnenbreite entsprechend komplexe Mittel findet!

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