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Nationalhymnendichter. Das Monument von France Prešeren auf dem nach ihm benannten Platz in Ljubljana, links die Franziskanerkirche.

© Wojtek Buss /AGF Creative / vario images

Slowenien: In Europas Puppenstube

25 Jahre nach der Unabhängigkeit: Impressionen aus Slowenien, einem literarisch reichen Land zwischen Balkan und Brüssel.

Von Gregor Dotzauer

Dem alten Phileas Fogg zufolge nimmt eine Reise um die Welt 80 Tage in Anspruch. Die halbwegs geruhsame Durchquerung von Europa dauert heute rund zwei Wochen. Für einen Schnellkurs in Sachen kontinentaler Herrlichkeit reichen 48 Stunden Slowenien jedoch völlig aus. Von den Karawanken im Nord- bis zur Adria im Südwesten entrollen sich Wiesen und Wälder mit einem Saft und einer Pracht, dass man sich Österreich und Oberbayern schenken kann – und einiges andere dazu.

Die Julischen Alpen erreichen zwar nicht die Grandeur des Wallis, rund um den Triglav-Nationalpark geht es aber mindestens so aufgeräumt zu wie in der Schweiz. Das türkise Glitzern der Seen lässt einen gar nicht erst von schwedischen Gewässern träumen. Die Straßen von Ljubljana durchweht eine wienerische Gelassenheit, während es aus den Küchen venezianisch duftet. In den Kirchen ist man dem Vatikan ein geradezu polnisches Wohlgefallen, und ein Tupfer Kreuzberger Widerborstigkeit findet sich im autonomen, von der Zwangsräumung bedrohten Künstlerzentrum Rog.

Darüber hinaus rühmen sich die zwei Millionen Slowenen der höchsten Dichterdichte auf Erden, der stattlichsten Anzahl an Olympiamedaillen pro Einwohner, der stolzesten Lipizzanerhengste und einer autochthonen Rebsorte namens Teran, die einen wunderbar süffigen Rotwein ergibt. Es ist kein Wunder, dass Japaner und Südkoreaner Slowenien als europäische Puppenstube betrachten. Das Land hat die unbalkanischste Anmutung aller exjugoslawischen Staaten - weshalb die gewaltsame Auflösung der Föderativen Republik 1991 vielleicht auch hier ihren Ausgang nahm.

Heinrich Himmler träumte von einem Wotan-Tempel in Bled

Schon Tito wusste, was er an Slowenien hatte und ließ sich von Kriegsgefangenen eine Sommerresidenz am See des Luftkurorts Bled, 50 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt, erbauen. Zahlreiche Staatsgäste bekamen das Riesenfresko zu sehen, auf dem Slavko Pengov vom Sieg der Partisanen über die Deutschen erzählt. Auch Heinrich Himmler soll ein Auge auf Bled geworfen haben und auf der Marieninsel mit der Wallfahrtskirche einen Wotan-Tempel geplant haben.

Janez Fajfar, zwei Jahrzehnte lang Direktor der Tito-Villa und heute Bürgermeister von Bled, kennt jede Anekdote, die sich an die Geschichte seiner 8000-Seelen-Gemeinde knüpft, bis zurück zu den Geschehnissen, die Sloweniens bedeutendster Polyhistor, Johann Weichard Valvasor, 1689 in den 15 Bänden seines Werks „Die Ehre des Herzogtums Krain“ festhielt.

Fajfar erzählt auch gerne den Witz, demzufolge es mindestens drei balkanische Mentalitätsstufen gibt. Die Slowenin, die Geld vor ihrem Mann in Sicherheit bringen will, versteckt es im Höschen, denn der Gatte, von Grund auf nicht zum Liebhaber aufgelegt, geht ihr garantiert nicht an die Wäsche. Die Bosnierin versteckt es in einem Buch, denn der Gatte wagt sich schon kaum an die Zeitung. Die Serbin versteckt es unter der Schaufel, weil der Gatte am liebsten die Beine hochlegt.

Das heißt nicht, dass es in Slowenien grundsätzlich ehrenwerter zugeht, man versteht sich nur besser darauf, Spannungen unter der Decke zu halten. Das beginnt bei der Cosa Nostra der Gondolieri in Bled, die ihre Fahrlizenz zwischen Festland und Insel nur innerhalb der Familie vererben. Wenn ein Boot 18 Passagiere fasst, die Überfahrt jeweils 14 Euro kostet und die Passage an guten Tagen zehnmal stattfindet, ergibt das eine Summe von 2520 Euro. Auf den Monat gerechnet kommen da Summen zusammen, die andere nicht im Jahr verdienen.

Und es setzt sich fort beim Ausverkauf einheimischer Unternehmen. So gehört Radenska, seit fast 150 Jahren das beste und bekannteste Mineralwasser der Region, seit 2014 der tschechischen Kofola-Gruppe und der Flughafen von Ljubljana der Frankfurter Fraport AG. Das Erzbistum Maribor steht nach wilden Investitions- und Spekulationsgeschäften bei seinen Gläubigern mit 800 Millionen Euro in der Kreide – und liegt dem Staat auf der Tasche. Allein der Haushaltsgerätehersteller Gorenje und der Pharmakonzern Krka sind noch in slowenischer Hand. Man sieht sich, auch in liberalen Kreisen, zwar nicht als Opfer der Europäischen Union, nach der man 2004 gierte, hadert aber durchaus mit den Brüsseler Einheitsnormen.

Der 1962 geborene Schriftsteller Jani Virk sagt: „Wir leben immer noch in einem privilegierten Teil von Europa und genießen die Vorzüge einer offenen Gesellschaft. Wirtschaftlich aber haben wir jede Stärke verloren.“ Ein gefragtes Exportgut sind höchstens die Theorien von Slavoj Žižek, Mladen Dolar oder Alenka Zupančič, Kulturwissenschaftler, die zuvor Jacques Lacans psychoanalytische Lehren aus Paris importiert hatten. Für den Nationalstolz und das Echo in der Welt nimmt man auch gerne in Kauf, dass Žižek in den Sturzbächen seiner dialektisch-clownesken Reden kein Hehl aus seinem eisernen Marxismus macht.

Mit dem ökonomischen Verfall ist eine Neue Linke aufgetaucht – und der 29-jährige Luka Mesec als ihr Hoffnungsträger. Ihre Ideen, mit denen sie Alexis Tsipras’ Syriza und Pablo Iglesias’ Podemos nacheifern, gegen Privatisierung und Austeritätspolitik, sind nicht sonderlich originell. Doch sie sind das Erfrischendste, was dem korrupten Land zustoßen konnte, in dem Politiker am liebsten die Partei wechseln, wenn es mit einem Posten nicht klappt.

Mit seiner leisen Art stellt er die alerten Berufspolitiker bloß

2013 gründete Mesec seine Initiative für einen demokratischen Sozialismus. 2014 schweißte er sie mit zwei weiteren Gruppierungen zur Vereinigten Linken (Združena levica) zusammen. Bei den Europawahlen scheiterte sie noch, bei den Parlamentswahlen im Juli erhielt sie sechs Prozent und stellt seitdem sechs Abgeordnete. Mesec, bis vor Kurzem noch Politologiestudent, fremdelt noch mit seiner neuen Rolle. Aber seine leise, eindringliche Art stellt das alerte Berufspolitikertum der Konkurrenten bloß.

Wohin das führt, steht auch angesichts einer sich verändernden Öffentlichkeit in den Sternen. Sloweniens renommierteste Tageszeitung „Delo“ (Die Arbeit), die sich einst mit Belgrads „Politika“ messen konnte und vor zehn Jahren noch eine Auflage von fast 100 000 Exemplaren erreichte, muss sich inzwischen mit 30 000 Exemplaren bescheiden. „Mladina“ (Jugend), eine Art „Spiegel“, ist auf rund 12 000 Stück abgestürzt. Für ein Land, dessen nachwachsende Generation kein Serbokroatisch mehr versteht, ist das eine bedrohliche Provinzialisierung. So hält man verzweifelt an der eigenen Sprache als größtem kulturellen Besitz fest.

Der 76-jährige Jože Pirjevec, Verfasser einer enzyklopädischen, im Kunstmann Verlag soeben auf Deutsch erschienenen Tito-Biografie, lehrt Geschichte an der Universität in Sloweniens Adriahafen Koper und lebt im italienischen Triest. Als er dort 1940 geboren wurde, lautete der Eintrag im Geburtsregister allerdings auf den Namen Giuseppe Pierazzi. Von Gesetzes wegen hatte seine Familie keine andere Wahl. Im Jahr 1922 – Mussolini hatte die Macht übernommen – begannen Assimilierungsmaßnahmen, begleitet von gewaltsamen Übergriffen.

Sie zerstörten das friedliche Miteinander von Italienern, Slowenen und Deutschen, wie es im habsburgischen Reich selbstverständlich war. Die rund 400 000 Slowenen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg auf einmal außerhalb des neu gegründeten Königreichs der Slowenen, Kroaten und Serben in Italien einrichten mussten, sahen sich zum ersten Mal in der Rolle einer Minderheit – nicht anders als die 90 000 Slowenen in Österreich und die 7000 in Ungarn.

Slowenien bewirbt sich als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse

Nationalhymnendichter. Das Monument von France Prešeren auf dem nach ihm benannten Platz in Ljubljana, links die Franziskanerkirche.
Nationalhymnendichter. Das Monument von France Prešeren auf dem nach ihm benannten Platz in Ljubljana, links die Franziskanerkirche.

© Wojtek Buss /AGF Creative / vario images

Pirjevec, einer von rund 15000 Triestiner Slowenen, hat jahrzehntelang an italienischen Universitäten unterrichtet. Er besitzt die doppelte Staatsbürgerschaft. Er freut sich darüber, dass die Diskriminierung gerade in den letzten Jahren abgenommen habe. Der Posten eines Rektors, glaubt er, wäre ihm trotzdem verwehrt geblieben. „Die alte Apartheid ist noch da“, sagt er im Garten seines Hauses, inmitten von wucherndem Grün, „sie wohnt in den Köpfen.“

Tatsächlich finden sich in Triest fast nirgends slowenische Aufschriften. Allerdings gibt es öffentliche Kindergärten, ein Theater und neben der Synagoge die Libreria Triestina/Tržaška Knjigarna, eine von Ljubljana subventionierte Buchhandlung. Ein ganzes Regalfach gehört Marko Sosič, dem neben dem 102-jährigen Boris Pahor bekanntesten slowenischen Erzähler aus Trst, wie die Stadt in seiner Sprache heißt.

Auf einem eigenen Tisch stapeln sich die Bändchen des 1926 im Alter von nur 22 Jahren gestorbenen Srečko Kosovel, des erst in den sechziger Jahren in seiner avantgardistischen Bedeutung zur Gänze entdeckten Konstruktivisten. Neben dem romantischen Nationaldichter France Prešeren, der in Bronze gegossen und mit einer Muse als Beigabe die Altstadt von Ljubljana bewacht, hat Kosovels Ruf es am weitesten hinaus in die Welt geschafft.

Die Slowenische Bibliothek ist auf 30 Bände angelegt

Um sein literarisches Gewicht unter Beweis zu stellen, bewirbt sich Slowenien gerade als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Der international renommierteste lebende Erzähler ist wohl der 1948 geborene Drago Jančar. In Deutschland kennt man den 1973 geborenen Dichter Aleš Šteger am besten – und seine verstorbenen Freunde Tomaž Šalamun und Dane Zajc. Derjenige, von dem man sich künftig Großes erhofft, ist der 1980 geborene Goran Vojnovič. Er hat bei Folio mit „Vaters Land“ einen ersten Roman auf Deutsch veröffentlicht.

Zu entdecken gilt es aber auch ein weithin unbekanntes Erbe. Die erzählende Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts steht im Mittelpunkt einer auf 30 Bände angelegten Slowenischen Bibliothek, einem Gemeinschaftsprojekt der Klagenfurter Verlage Drava, Mohorjeva/Hermagoras und Wieser. Fünf Bände hat Herausgeber Erwin Köster bisher vorgelegt.

Aber woher soll die Aufmerksamkeit für die Dichter kommen? Von Gregor Strniša, den nicht nur Šteger für die bedeutendste Stimme in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hält, gibt es kein einziges Gedicht auf Deutsch. Mit seinen metaphysischen, auf die Durchdringung kosmologischer Strukturen ausgerichteten Texten, galt Strniša selbst dem im Mai verstorbenen Fabjan Hafner, der sich stets als Mann für schwierige Fälle empfahl, als unübersetzbar.

Heinrich Böll rettete Kocbek vor weiterer Verfolgung

Von dem Linkskatholiken Edvard Kocbek (1904-1981) konnte man hierzulande immerhin Notiz nehmen, etwa durch Klaus Detlef Olofs Gedichtauswahl „Aschenglut“. Unter den modernen Klassikern ist er eine historische Schlüsselfigur. Seine Distanz zu den Kommunisten hielt ihn nicht davon ab, sich 1941 auf die Seite der Partisanen zu schlagen und in Titos Übergangsregierung kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs einen Ministerposten zu bekleiden. Er wurde aber schnell zur persona non grata, nachdem er die Moral der Partisanen infrage gestellt hatte. Insbesondere als er Mitte der 70er Jahre darauf hinwies, dass die Kommunisten unmittelbar nach Kriegsende 12 000 kriegsgefangene Angehörige der mit den Deutschen kollaborierenden Slowenischen Heimwehr gemeuchelt hatten, konnte ihn nur Heinrich Böll vor weiterer Verfolgung schützen.

Die 30 Bände umfassenden Tagebücher des inzwischen Rehabilitierten gelten als zeitgeschichtliche, philosophische und poetologische Schatztruhe. Eine deutsche Auswahl würde genügen, und man würde wohl auch das heutige Slowenien in seiner Zerrissenheit zwischen jugoslawischem Erbe und europäischem Auftrag besser verstehen. Schon Kocbek ahnte, dass es, ganz allein auf sich gestellt, verkümmern würde. In einem wunderbaren kleinen Gedicht spinnt er die Idee aus, dass die Chinesen nur im selben Moment von einer zwei Meter hohen Stelle auf Feindesland springen müssten, um ein verheerendes Erdbeben auszulösen. Eine solche Kriegswaffe sei seinen Landsleuten nicht gegeben: „Die Slowenen müssten aus solcher Höhe / auf die Erde springen, / dass alle draufgingen. / Deshalb müssen wir uns dem Nachbar verschreiben, sagen sie im Futurismus-Seminar.“

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