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 Traumwandlerische Langsamkeit. Still aus der ununterbrochenen 59-minütigen Einstellung in Bi Gans Cannes-Beitrag "Long Day's Journey Into Night" (2018).

© Wild Bunch / Promo

Slow Cinema: Wenn du es eilig hast, geh langsam!

Lieber beobachten als erzählen: Nadin Mai feiert in ihrem Blog das langsame Kino. Die Zeitschriftenkolumne.

Von Gregor Dotzauer

Der Singular, mit dem die Bezeichnung „Slow Cinema“ zu Anfang des Jahrtausends in die Welt kam, war schon immer trügerisch. Michel Ciment, der heute 72-jährige Chefredakteur von „positif“ (revue-positif.net), Frankreichs namhaftester Filmzeitschrift neben den legendären „Cahiers du Cinema“, fasste darunter wohl als Erster Regisseure wie den Ungarn Béla Tarr, den Taiwaner Tsai Ming-liang oder den Iraner Abbas Kiarostami.

Er musste wissen, wie schwer vergleichbar allein das Kino dieser drei ist – von disparaten Ahnen wie Michelangelo Antonioni oder Andrei Tarkowski ganz abgesehen.

Über einen tendenziell kontemplativen, eher am Beobachten als am Erzählen orientierten Zug hinaus, herrscht über die Eigenschaften bis heute wenig Einigkeit. Selbst den Ruf, sich selbstbewusst gegen ein ADHS-verdächtiges Mainstream-Kino zu stellen statt lediglich einer eingebildeten Festivalnorm gehorchende Lethargie auszustrahlen, musste sich das Slow Cinema erkämpfen. Seine Langsamkeit lässt sich nicht einmal ohne Weiteres in ein filmtechnisches Vokabular übersetzen.

Strittige Kriterien

Weder die Einstellungsdauer noch die gerne über alle Ufer tretende Filmlänge sind ausreichende Kriterien. Und dann hat man es auch noch mit einer Bewegung zu tun, die zwischen dem narrativen, dem dokumentarischen und dem essayistischen Film so ziemlich jedes Genre erfassen kann.

Immerhin scheint man sich heute, da Kritiker und Filmwissenschaftler den Begriff in seiner ästhetisch beschränkten Aussagekraft unzählige Male hin- und hergewendet haben, auf einen unvermeidlichen Plural verständigt zu haben. Tiago de Luca und Nuno Barradas Jorge, die Herausgeber der bisher gründlichsten Studie zum Thema, überschreiben die Einleitung zu ihrem 2015 in der Edinburgh University Press erschienenen Buch mit „From Slow Cinema to Slow Cinemas“ – ein Stück Grundlagenforschung zu einer Kunst, die im filmischen Bild selbst gerne Grundlagenforschung zu Fragen der Zeitwahrnehmung betreibt.

Das lebendigste, weil um Definitionsprobleme wenig verlegene Forum ist Nadin Mais Website „The Art(s) of Slow Cinema“ (theartsofslowcinema.com). Die französische Publizistin sammelt seit acht Jahren in aller Welt ein, was unter die Bezeichnung fallen könnte.

Erweckungserlebnis Béla Tarr

In dieser Zeit hat sie eine übersichtlich erschlossene Fülle von Interviews, Rezensionen und Essays angehäuft. Ihr durch Spenden via patreon.com finanzierter Blog hat durch eine auf 100 Exemplare limitierte Sammlerausgabe, die Förderer als PDF beziehen können, aber auch eine physische Komponente.

Ihr Erweckungserlebnis hatte Nadin Mai ausgerechnet mit Béla Tarrs „The Man From London“, einer Simenon-Verfilmung aus dem Jahr 2009, die gemessen an den 450 epochalen Minuten von „Satanstango“ (1994) oder den 145 Minuten der „Werckmeisterschen Harmonien“ (2000) schon fast wie ein Selbstzitat wirkt.

Sie ist Spezialistin für das gigantomanische Werk des philippinischen Regisseurs Lav Diaz, und natürlich hat sie auch Bi Gan, den jüngsten Zuwachs der Bewegung, der sich mit nur zwei Filmen, „Kaili Blues“ und „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, den Ruf eines chinesischen Tarkowski eroberte, schon gewürdigt.

Lesen kennt keine vorgegebene Geschwindigkeit

Interessant wird es, wo sie neben den internationalen Schlachtrössern ihr Augenmerk auf weniger bekannte Instanzen wie den Österreicher Nikolaus Geyrhalter oder den in der Kunstszene beheimateten Engländer Ben Rivers richtet – und konsequent den asiatischen Raum erschließt, in dem sich die Langsamkeit besonders wohlzufühlen scheint.

Slow Cinema ist auch deshalb ein Phänomen, weil sich sein spezifisches Tempo in anderen Künsten so nicht findet. Mit Ausnahme der Musik (und anders: des Theaters) gibt es keine Kunst, die ihre Rezeptionsgeschwindigkeit diktiert. Man kann stundenlang in Gemälden versinken, aber auch achtlos an ihnen vorübergehen.

Und während es zwar Plädoyers für ein Slow Reading gibt, existiert nicht eigentlich eine Slow Fiction. Der Leser entscheidet, wie schnell er selbst Feste der Monotonie wie Adalbert Stifters „Nachsommer“ durchqueren will.

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