zum Hauptinhalt
Tristesse West. Stadtoberinspektor beim Bezirksamt Wedding, aus Schmidts Serie „Berlin- Wedding, 1976-78“.

© Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt

Sinnlich, sozial engagiert, stilprägend: Wie Michael Schmidt das Berlin der Nachkriegszeit einfing

Der Hamburger Bahnhof würdigt den Fotokünstler mit einer großen Retrospektive. Sie reicht von verwegenen Stadtbildern bis zur Abrechnung mit der Agrarindustrie.

Die Frau schüttelt die Betten auf. Der Mann schaut zu. Dann macht sie Kaffee und fährt mit dem Bus zur Arbeit. Die Frau kann Lagerarbeiterin sein oder Ärztin. Sie wohnt beengt oder im weitläufigen Altbau. Kommt der Feierabend, ist der Arbeitstag noch nicht vorbei.

Bevor die Frau nach Hause geht, springt sie noch beim Fleischer rein. Zu Hause warten die Kinder. Die Frau tut, was getan werden muss. Was aussieht wie die lapidare Version einer Fotogeschichte in der guten alten „Bravo“, ist ein sozialdokumentarisches Frühwerk von Michael Schmidt. Er hat „Die berufstätige Frau in Kreuzberg“ 1975 fotografiert.

Diese und andere Serien, die der 1945 geborene Kreuzberger im Auftrag von Bezirksämtern und Senatsverwaltungen abgelichtet hat, bilden den überraschenden Auftakt der Retrospektive im Hamburger Bahnhof. Später folgen dann die künstlerischen Meilensteine, die Schmidts Bedeutung als stilprägenden Nachkriegsfotografen begründen: die Werkgruppen „Waffenruhe“, die dem Autodidakten 1988 die erste Einladung nach New York ins Museum of Modern Art beschert.

„Ein-heit“, die ihm 1996 dort die erste Einzelausstellung eines deutschen Fotografen seit mehreren Jahrzehnten verschafft. Und die abstrakt verklausulierte Abrechnung mit dem agroindustriellen Komplex namens „Lebensmittel“ (2012), für die Michael Schmidt wenige Tage vor seinem Tod im Jahr 2014 von Kofi Annan in London den Prix Pictet zugesprochen bekam.

Angefangen jedoch hat das mehr als vier Jahrzehnte umfassende Künstlerleben Schmidts vor seiner Haustür. Im Bezirk, der nach Mauerbau zur West-Berliner Sackgasse mutierte. Hier bildet sich der Sohn kleiner Leute, nachdem er den Polizeidienst quittiert hat, auf der Straße selbst zum Fotografen aus. Hier gründet er, um die Erweiterung des Blicks auch anderen zu ermöglichen, 1976 in der Volkshochschule die „Werkstatt für Photographie“.

Der Swag der 80er Jahre. Bild aus der Serie „Berlin-Kreuzberg. Stadtbilder 1981-82“.
Der Swag der 80er Jahre. Bild aus der Serie „Berlin-Kreuzberg. Stadtbilder 1981-82“.

© Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt

Die in Deutschland einzigartige Einrichtung zur künstlerischen Erwachsenenbildung erlangt bald internationalen Ruf, weil sie als einer der damals noch raren Ausstellungsorte für Gegenwartsfotografen fungiert. Leute wie Robert Adams, Larry Clark oder William Eggleston stellen dort erstmals in Deutschland aus.

Migrantenfamilien beim Picknick am Landwehrkanal, Hinterhofkinder, Hauswartsfrauen, Weddinger Angestellte oder chronisch Kranke, die Schmidt in der Serie „Benachteiligt“ (1980) porträtiert - ihnen allen gibt der stets Distanz wahrende Stadtfotograf ein Gesicht. Doch sein eigentliches Sujet ist die Stadt selbst, wie in den ersten Räumen der chronologisch das Werk abschreitenden Schau sichtbar wird.

[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen in Berlin. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]

Der dreckverkrustete Schneematsch am Straßenrand, die vom Rauch der Ofenheizungen getrübte Winterluft: Das Vor-Mauerfall-Berlin ist förmlich zu riechen. Die grauen Winter mit wochenlangen Minusgraden. Die wüsten Brachen und vom Bombenkrieg planierten Flächen der südlichen Friedrichstadt, in denen einzelne Gebäude noch als Relikte besserer Tage herumstehen. Ruinen, wie das mit Gras bewachsene Portal des Anhalter Bahnhofs.

In den Serien „Stadtbilder, 1977–1983“, „Berlin nach 45, 1980“ und „Stadtlandschaften, 1981“ zeigt der Fotograf den dröhnenden Stillstand einer Stadt, deren Vergangenheit selbst im Verschwundenen bedeutsamer als ihre Gegenwart zu sein scheint. Zukunft? Pustekuchen.

Dystopische Stimmung. Bild aus der Serie „Waffenruhe“.
Dystopische Stimmung. Bild aus der Serie „Waffenruhe“.

© Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt

Das ist die dystopische Stimmung, die Michael Schmidt gemeinsam mit Einar Schleef, der die Prosa beisteuert, dann im Künstlerbuch und der Werkgruppe „Waffenruhe“ in Fotokunst jenseits dokumentarischer Strenge verwandelt.

Mauer, Graffiti, Stadtnatur, Infrastruktur, Punks, teils grell geblitzt und so ausgeschnitten, dass keine Verortung, kein Erkennen möglich ist. Eine in dichter, in Eisen gerahmter Hängung zu Blöcken zusammengefasste Etüde der Düsternis.

[Hamburger Bahnhof, bis 17.1., Di-Fr 10-18 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr (mit Zeitfensterticket), Katalog Koenig Books, 49,90 €.]

Die Entwürfe des Fotobuchs, das Schmidt bis hin zur Drucküberwachung ebenso selbst entwickelte wie die Rahmung und Präsentation seiner Fotos, sind ebenfalls zu sehen. Auch darin gilt der Autorenfotograf, der ein Talent dafür hatte, öffentliche und private Förderer für seine Projekte zu begeistern, nachwachsenden Fotografen und Fotografinnen als Vorbild.

Eine Inspiration für spätere Generationen. Michael Schmidt, hier im Porträt, 2010.
Eine Inspiration für spätere Generationen. Michael Schmidt, hier im Porträt, 2010.

© Albert Fuchs

Eine von ihnen ist Laura Bielau. Sie hat Schmidt beim reise- und recherche-intensiven „Lebensmittel“-Projekt assistiert und nun Kurator Thomas Weski bei der Aufarbeitung von Schmidts Archiv für die Retrospektive unterstützt. Schmidt hat sie als Fotografie-Studentin in Leipzig kennengelernt.

„Sein Werk war für uns wie eine Bibel“, sagt sie beim gemeinsamen Ausstellungsrundgang. „Weil es so zeitlos und so sperrig ist und kein bisschen an der Oberfläche bleibt.“ Das gilt besonders für die Serie „Ein-heit“ (1991–1994), in der Schmidt die deutsch-deutsche Geschichte komplett ins Zeichenhafte, ins Symbolische hebt.

Und zwar, indem er Leerstellen in verlassenen Ost-Berliner Büroräumen fotografiert und immer wieder Fotos ablichtet: Zeitungsbilder von militärischen Aufmärschen, den eigenen Pass oder Fahndungsfotos.

Beim Betrachten eines angezeichneten Kontaktbogens, der im letzten, mit „Archiv“ betitelten Ausstellungsraum zu sehen ist, lässt sich dank Laura Bielaus Hinweis erkennen, dass ein Frauen-Konterfei, das vermeintlich in den Kontext der Terroristenfahndung gehört, tatsächlich ganz woanders herstammt.

„Wenn man meine Sachen sieht, gibt es in meiner Arbeit nur Brüche und scheinbar gar keine Konsequenz“, sagt Michael Schmidt in einem Video. Im Angesicht seiner Frauen- und Landschaftsporträts begreift man, dass gerade die Brüche seine künstlerische Konsequenz ausmachen. Im „Lebensmittel“-Raum, der nur einen Teil der 177 Fotos umfassenden Werkgruppe zeigt, wird das durch einige Farbfotos augenfällig.

Es ist das erste Mal, dass Michael Schmidt, der sich seit der „Wedding“-Serie (1976–78) lieber vieler Grauschattierungen als eines plakativen, hart kontrastierten Schwarz-Weißes bediente, Farbe einsetzt. Bei eingeschweißtem Fleisch, einem Apfel oder eingefärbten Tomaten aus dem Plastikfolienland von Almería. Gruselig, dieses Bunt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false