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Die Münchener Schriftstellerin Christine Wunnicke, 54.

© privat/Verlag

Shortlist Deutscher Buchpreis: Christine Wunnickes Roman "Die Dame mit der bemalten Hand"

Die Vermessung des Orients und des Subkontinents: Christine Wunnikes gewitzter, skurriler und subtiler Roman „Die Dame mit der bemalten Hand“.

Die 1966 geborene, in München lebende Schriftstellerin Christine Wunnicke war mit Romanen wie „Katie“ oder „Der Fuchs und Dr. Schimamura“ lange ein Geheimtipp. Nun aber wird die Anerkennung breitenwirksam. Für ihr neues Werk „Die Dame mit der bemalten Hand“ hat sie bereits den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis und den Literaturpreis der Landeshauptstadt München erhalten.

Wunnicke hat sich darauf spezialisiert, historische Romane über Wissenschaftler und Entdecker zu schreiben – kluge und kurze Bücher, in denen es meist allerdings um die ins Irrationale ausfransenden Grenzregionen der Wissenschaft geht, etwa um Spiritismus oder Parapsychologie.

Mit kühnem Schritt betreten Wunnickes Helden Sackgassen der Forschung. Als solche erscheint in ihrem neuen Roman die Arabien-Expedition, die der Göttinger Theologe und Orientalist Johann David Michaelis im Jahr 1761 auf den Weg brachte, um die Authentizität der biblischen Geschichten zu erweisen – eine Vorgabe und Seh-Anweisung, die heute unwissenschaftlich anmutet, damals aber eher als „Realitäts-Check“ im Sinn der Aufklärung verstanden wurde. Man wollte wegkommen von der reinen Buchgelehrsamkeit.

„Empirische Exegetik“ nennt der unter Dampf stehende Theologe seine Methode in den furiosen Eingangskapiteln des Romans. „Dem Orient fehlt es an Hurtigkeit“, verkündet er, weshalb sich die Morgenländer noch immer im „biblischen Zustande“ studieren ließen.

Der Mathematiker Carsten Niebuhr ist einer der Hauptfiguren des Romans

Zu denen, die Michaelis mit einem umfangreichen, von Wissenschaftlern aus ganz Europa zusammengestellten Fragenkatalog auf die Reise schickt, gehört der Mathematiker und Kartograf Carsten Niebuhr, eine der beiden Hauptfiguren des Romans. Die Expedition verläuft allerdings katastrophal. Nach zwei Jahren sind alle teilnehmenden Forscher außer dem vitalen niedersächsischen Bauernsohn Niebuhr an der Malaria (die damals noch als ominöses „Sumpffieber“ firmierte) verstorben.

Bei Wunnicke weicht Niebuhrs Reisegruppe von ihrer realen Route ab, Richtung Indien, weil es dort englische Ärzte gibt. Zu spät. „Woran krepierten sie alle?“, fragt sich Niebuhr verzweifelt. Und strandet zu allem Übel 1764 auf der struppigen kleinen Insel Elephanta, die in einer Meeresbucht vor Mumbai liegt und heute dank ihrer Höhlen mit Shiva-Skulpturen zum Weltkulturerbe zählt. In einer dieser Höhlen, in der die Affen herumturnen, hockt Niebuhr nun und fiebert vor sich hin.

Kurz bevor er in Ohnmacht fällt, steht ihm ein anderer gelehrter Mann gegenüber: Meister Musa al Lahuri, Hofastronom des Fürsten von Jaipur sowie ein Erbauer filigraner Astrolabien. Auch er ist auf Elephanta hängen geblieben; eigentlich war er mit seinem Diener in der Gegenrichtung unterwegs, auf der Suche nach arabischer Weisheit.

Als Niebuhr wider Erwarten doch nicht stirbt, kommen die beiden Repräsentanten unterschiedlicher Wissenskulturen ins Gespräch, das anfangs holprig verläuft. Ihre Sätze klingen halb nach Tiefsinn, halb nach verbeultem Deutsch, was sich aber realistisch dadurch erklärt, dass sie in arabischer Sprache kommunizieren, deren unzulängliche Beherrschung Wunnicke im Deutschen kurios abbildet.

„Sein Arabisch war reichhaltig, falsch und lustig“, heißt es über Carsten Niebuhr, dessen Name sich für Meister Musa wie „Kurdistan Nibbur“ anhört, was er nicht wirklich glaubhaft findet für einen Mann aus dem nördlichen „Almanya“. Lustig, wenn Kurdistan erzählt, dass sein Vater „die Witwe des Muftis von Olenbrook“ geheiratet habe.

Niebuhr schrumpft in diesem Roman zum Gescheiterten.

Oder wenn er den Titel eines berühmten Märchens aus seiner Heimat erwähnt: „Deck dich selbst, oh kleiner Tisch des Wunders.“ Wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht mutet es wiederum an, wenn Meister Musa im Gegenzug Geschichten aus seiner Herkunftswelt auftischt. Bis Kurdistan empört ausruft: „Du lügst wie gestempelt.“

Das Sprachproblem, dem sich viele Pointen verdanken, gehört in den Motivkreis des Missverstehens, der für Wunnickes Erzählwelt essenziell ist. Die Autorin liebt es, mit halbgarem Wissen, trügerischen Wahrheiten und unzuverlässigen Auskünften zu spielen. Schon wenn Professor Michaelis von Niebuhrs „nordseeblauen Augen“ spricht, sollte man misstrauisch werden. Seit wann ist die graugrünbraune Nordsee blau?

Am Ende verständigen sich Musa und Niebuhr aber doch recht passabel; zudem wirft hier jedes Missverständnis zusätzlichen Sinn ab. Von optischen Instrumenten und vom mythischen Ursprung der Mathematik ist die Rede, von Keppler, Kopernikus und Al Quschdschi, einem Vorläufer der europäischen Astronomen.

Beim Betrachten des Sternenhimmels kommen Niebuhr und Musa zu einer Erkenntnis, die sich wie ein Resümee ihrer kulturvergleichenden und kulturkollidierenden Gespräche ausnimmt: „Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder.“ Was dem einen die Kassiopeia ist, ist dem anderen die Dame mit der bemalten Hand. Pluralität der Sichtweisen – das scheint die zeitgemäße Lehre von Christine Wunnickes Komödie der Missverständnisse.

So wie in Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ Alexander von Humboldt partiell zur Karikatur wird, schrumpft Niebuhr in Wunnickes Roman zum Gescheiterten. Die ganze Expedition in den Orient erscheint als Farce. Ein Fehlschlag war sie in Wahrheit aber keineswegs. Nach dem Tod seiner Mitstreiter gab Niebuhr nicht auf, sondern reiste noch vier Jahre weiter durch den Orient. Er zeichnete die ersten verlässlichen Karten vom Roten Meer und vom Jemen und lieferte wertvolle Kopien von Keilschriften und Hieroglyphen.

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In seiner mehrbändigen „Beschreibung von Arabien“ emanzipierte er sich vom Michaelis-Fragenkatalog und entwickelte eine eigenständige Ethnografie, die im 18. Jahrhundert einen maßgeblichen Durchbruch im Wissen über den Orient bedeutete. Niebuhrs differenzierte, die gängigen Orientklischees hinterfragende Betrachtung wird bis heute gerühmt.

Ein Roman ist jedoch nicht der historischen Wahrheit verpflichtet. Schwerer wiegt, dass Christine Wunnickes Buch in der Mitte ein wenig schwächelt. Niebuhr und Musa reden zwar wunderschön aneinander vorbei, aber das kann die Stagnation der Handlung nicht völlig kompensieren. Eine Lesefreude sind dagegen wieder die Schlusskapitel, wenn Niebuhr nach Göttingen zurückkehrt und Michaelis wiedertrifft.

Der zeigt sich nicht an den Aufzeichnungen des auf der Expedition verstorbenen Biologen Forsskal interessiert, die ihm Niebuhr aushändigen will – offenbar passen sie nicht in sein theologisches Konzept. Meister Musa im fernen Jaipur ist unterdessen bequem geworden und verwendet auf seine zuvor gerühmten Astrolabien nicht mehr viel Mühe. „Der ganze Himmel geriet durch Vaters Faulheit allmählich aus den Fugen“, bemerkt seine Tochter Nayyirah.

Eine gewitzte Weisheit, die in keinem Wissen zur Ruhe kommt, kennzeichnet dieses Buch. Sie ist aphoristisch formuliert in dem Mantra eines hinduistischen Gurus, das zum Leitmotiv wird: „Es ist alles ein Rätsel, und du musst es nicht lösen.“ Allein für diese beruhigende Einsicht lohnt sich die Lektüre des so subtilen wie skurrilen Romans, der nun zu Recht auch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht.

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